Ilmari Lahdelma und Rainer Mahlamäki machten sich 1997 in Helsinki selbstständig. Seit ihrem Projekt „Tampere University of Technology“ folgen in regelmäßigen Abständen weitere Aufträge aus dem Bildungssektor. Das von ihnen entworfene Metropolia Myllypuro Campus, Helsinkis Pilotprojekt im Rahmen der Aktion Live Baltic Campus, hat ihre Tore in diesem Jahr geöffnet und läutet damit eine neue Phase in der urbanen Entwicklung des Stadtteils Myllypuro ein.
2.Oktober 2019 | Özlem Özdemir
Um eine überdimensionierte Straßeninsel handelt es sich beim Standort der Fachhochschule in Helsinkier Stadtteil Myllypuro, deren Spektrum von technischen über soziale bis medizinische Berufe reicht. Vorher gab es auf dieser „Insel“ praktisch nur ein weitläufiges flaches Gebäude mit der Bezeichnung Liikuntamylly. Wörtlich übersetzt heißt dies „Übungsmühle“ und macht damit anschaulich, dass es sich dabei um eine Sportanlage handelt. Und das Wort für Mühle steckt auch im Stadtteilnamen Myllypuro, der sich am ehesten mit Mühlenbach übersetzen lässt. Hier nun platziert sich also Metropolia Myllypuro Campus. Die Einweihung der ersten Phase, Gebäude A, fand im Januar 2019 statt. Etwa 3.000 Studierende und 250 Mitarbeiter zogen auf das Gelände. Spätestens im August sollen es 6000 Studierende und 500 Mitarbeiter gewesen sein.
Architektur ist immer eine urbane und damit auch eine gesellschaftliche Angelegenheit und als solche sollte man gerade Metropolia Myllypuro Campus, noch vor den funktionalen und ästhetischen Aspekten, angehen. Denn so klangvoll und poetisch sein Name anmutet so sorgenvoll wird Myllypuro von vielen betrachtet: Der Arbeitslosenanteil der Bevölkerung von knapp 11.000 Einwohnern liegt hoch. Die sozio-ökonomischen Schwierigkeiten hielt die URBAN Community Initiative (1994-1999) der EU schon 1997 fest: „Myllypuro-Kontula ist ein Wohnbezirk mit einer alternden Bevölkerung, einkommensschwachen Familien mit Kindern und Einwanderern. Das Bildungsniveau der Bevölkerung ist eines der niedrigsten und die Arbeitslosigkeit eines der höchsten in der Region (25%).“ (Übers. v.d.A.) Seitdem fanden mehrere Aktionen statt. Laut Local Campus Report fand man nur ein Jahr nach dieser Veröffentlichung der EU bedenkliche Chemiestoffe in der Region vor: „Im Jahr 1998 wurden auf einer Fläche, die in den 70er Jahren über eine Deponie gebaut worden war, Überreste von Umweltgiften (PCB-Rückstände) gefunden.“ (Local Campus Report 2016, S.5 f. / Übers. v. d. A.) Somit mussten 11 Wohngebäude und ein Kindergarten abgerissen werden. Zehn Jahre später, 2018, steht dort ein neues Parkgelände. Das Zentrum von Myllypuro wurde 2010 renoviert. Das alte Einkaufszentrum wurde 2009 abgerissen und durch einen neuen und größeren Zentralblock ersetzt, neue Wohngebäude und das Myllypuro Health Center kamen hinzu.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist es nur zu verständlich, was für eine Bedeutung dieser neuen Bildungseinrichtung zukommt und warum gerade hier Metropolia (mit ihren etwa 20 Campussen in Helsinki) eine weitere Niederlassung gefunden hat: „Aus Sicht der Stadt war die Entscheidung, den neuen Campus von Metropolia in Myllypuro zu platzieren, eine strategische Entscheidung. Die Stadt sieht in dem Campus einen Mehrwert für die östlichen Vororte, der dem Image des gesamten Stadtteils zugute kommt und neue Möglichkeiten schafft. Der Campus ist eine große Investition für die Stadt und kostet 165 Millionen Euro.“ (Local Campus Report 2016, S.7 / Übers. v. d. A.)
Die Investition ist verständlich. Denn Keimzelle aller grundlegenden Verbesserungen der Lebensverhältnisse ist Bildung – mit einer solchen Überzeugung mögen sich auch die Architekten von Metropolia Myllypuro Campus an die Arbeit gemacht haben.
Wie drückt sich nun das Ziel dieses Projekts aus? Zu sehen ist eine sechsstöckige Baukomposition, gebildet aus vier U-förmigen Türmen oder vier großen Zellen, wenn man beim vorherigen Bild bleiben will. Der 56.000 qm umfassende Campus steht vor dem Hintergrund einer flachen und undifferenzierten Sportstätte von etwa 12.000 qm. Eine ideale Bedingung, um im wahrsten Sinne des Wortes hervorzuragen. Aber auch im Zusammenhang mit der gesamten Umgebung, wo es östlich gesehen vom Campus eine Wohnsiedlung mit kleinen Häusern und ihren Gärten und wiederum westlich davon Wohnhausblöcke und ein großes Einkaufszentrum gibt, sticht dieser architektonische Neuzugang mit der z.T. schwarz-weiß gestreiften Fassadengestaltung hervor. Das Gebäude wird zum Signal, das soweit wie möglich reichen soll. Manche bezeichnen ihn als Landmark (ein vielbemühter Begriff).
So dezentral der Entwurfsansatz von Metropolia Myllypuro Campus ist, so zentralisierend wirkt er auf seine Umgebung ein. Hierzu muss ein kleiner Exkurs nochmals deutlich machen, wie ernst es der Stadt ist mit der Idee der Fachhochschule als Kontaktzentrale. So berichtet Central Baltic während der Entstehungsphase: „Die Stadt sieht den Campus als einen vitalisierenden Impuls für die Region. (…) Er kann Unternehmen anziehen und das Gebiet für die Bewohner attraktiver machen.“ (Interreg Central Baltic, Dezember 2017, S.3 / Übers. v. d. A.)
So soll die Verbindung zwischen dem Menschlichen und dem Monetären funktionieren. Und aus derselben Quelle erfahren wir: „Um die lokale Gemeinschaft zu erreichen und sie einzubeziehen und über die Entwicklung des Campus auf dem Laufenden zu halten, wurde ein Raum in der Myllypuro Mall für zwei Wochen gemietet, um einen Pop-up-Treffpunkt zu schaffen. Ziel war es, mit der lokalen Gemeinschaft zu interagieren und die Nachbarschaft und die Interessengruppen über die Ankunft des Campus zu informieren und ihnen über die Aktivitäten auf dem Campus zu berichten. Das Pop-Up war vom 11. bis 23. Mai 2017 geöffnet und es wurden verschiedene informative Programme organisiert. Rund 300 Besucher wurden erreicht.“(Interreg Central Baltic, Dezember 2017,S.12 / Übers. v. d. A.)
Man hat fast den Eindruck, die Bevölkerung musste auf die bevorstehende pädagogische Einrichtung vorbereitet oder eingestimmte werden und das auf pädagogische Weise.
Aber was ist es nun, was diese neue Hoffnung der Region ganz besonders ausmacht? Selbst wenn es von außen nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, zeigt Metropolia Myllypuro Campus sehr schnell, dass es dafür geschaffen ist, Bildung und Lernen als eine lebendige und gesellige Aktion zu begreifen. Darum scheint es LM architects am meisten zu gehen, den jungen Menschen, den Lehrenden und allen anderen, die hierher kommen, das Gefühl zu geben, nicht nur eine Ausbildung zu erhalten, sondern sie zu erleben. Und mit Erlebnisräumen und Stimmungen kennt sich das finnische Architekturbüro aus, was sie (in Zusammenarbeit mit Kuryłowicz & Associates) spätestens 2013 beim Projekt POLIN, bewiesen hatten. (Das Warschauer Museum Of The History Of Polish Jews mit der streng-kubischen Außenform und dem unvermutet hellen organischen Innenleben aus Holz, war wahrscheinlich ein Höhepunkt im Werk der Architekten.)
Auch das Metropolia Myllypuro Campus bietet auf seine Weise und im Rahmen seiner Möglichkeiten Räume an, die zu Bewegung und Flexibilität anregen. Diese Lebendigkeit zeigt sich schon auf der funktionalen Ebene, so zum Beispiel im Erdgeschoss, das für eine gemeinsame Nutzung für Schüler und Lehrer verschiedener Fachrichtungen vorgesehen ist. Hier können sie interagieren, sowohl in offenen Studienräumen als auch in großen Auditorien. Hier ist aber auch die Ebene, die die Mitglieder der lokalen Gemeinschaft willkommen heißt. Die Bibliothek im ersten Stock, ein Lernraum, Besprechungsräume, die Cafeteria und ein Restaurant sind allen öffentlich zugänglich.
Abgesehen von den Einrichtungen, die typisch sind für universitäre Bildungsstätten, ist es aber vor allem die Atmosphäre der Zwischenzonen im Innenraum, um die sich die Architekten bemüht haben. Leichtigkeit und Ungezwungenheit werden unterstrichen durch das Zebra-Ambiente der Decken; die weiß perforierten Streifenelemente in den schwarzen Decken – man fühlt sich sogleich an die Fassadengestaltung erinnert – erzeugen im Innern zusammen mit den sternengleichen Lichtkörpern eine verspielte Stimmung. Im Kontrast dazu sind die meisten Wände weiß oder hell und werden hier und da mit Farben akzentuiert und aufgefrischt. Die Farben tauchen auf bei Treppenstufen, Böden, Wandabschnitten oder Vorhängen. „Es gibt einige Bereiche mit recht hellen Farben und Gelb. Der nächste Turm wird blau sein, der übernächste Turm wird rot sein, es gibt ein bestimmtes Thema der Verwendung von Farben“, verriet Mahlamäki den finnischen Medien schon Anfang des Jahres (Übers. v. d. A.).
Die Lebensqualität der Stadt Helsinki, die in Myllypuro versperrt oder vernachlässigt zu sein schien, hat nun freie Bahn. Im Kleinen wird vorgemacht, wie es im Großen vorstellbar wäre. In der Hoffnung, dass vielleicht eine gegenseitige Befruchtung folgen wird, zwischen Studierenden und ihrem Stadtteil.
Aber schon jetzt können alle den urbanen Mikrokosmos des Lehrgebäudes nutzen und genießen. So wird der Weg zur nächsten Veranstaltung in diesem Campus nicht notgedrungen überwunden, sondern zu einem räumlichen Ereignis. So werden aus Studierenden und Besuchern vielleicht Flaneure der Innenräume. Das Angebot ist da. Die hohen und offenen Foyerbereiche und geschwungen geformten Galerien und Treppen, verbinden die Etagen, eröffnen verschiedene Perspektiven, machen unterschiedliche Blickbeziehungen und visuelle Querverbindungen im Raum möglich. Sehen und gesehen werden. Aber auch Kommunikation und Austausch wird leicht gemacht. Nischen für Gruppenarbeiten sollen wie nebenbei und spontan zustande kommen. Und sich hier gegenseitig etwas zuzurufen entpuppt sich zum akustischen Happening. ♦
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