Omer Arbel ist ein Gestalter von Materialien, der Wert legt auf den Prozess. Mit seinen versuchsorientierten Werken bewegt er sich fern vom Mainstream in Kunst, Design und Architektur. Beton gießt er mit Vorliebe in Schalungen aus Geotechnik-Stoffen oder einfach nur Heu.
17. September 2020 | Özlem Özdemir
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mer Arbel ist Künstler, Designer und Architekt mit Sitz in Vancouver. Statt Namen gibt er seinen Arbeiten fortlaufende Nummern. Der Grund ist schlicht und elementar. Sobald eine Idee Form annimmt, wird sie mit einer oder mehreren Zahlen versehen: wie bei einem Wesen, das ab sofort ein Geburtsdatum vorweisen kann. Aber ob Arbel Sinn für Animismus hat, wissen wir nicht. Sicher ist: Seine hemmungslosen Versuchsserien kreisen um das Thema Material. Er ist fasziniert von Werkstoffen, sowohl von den klassischen als auch denen, die man nie für solche gehalten hätte. Er vertieft sich in ihre mechanischen, physikalischen und chemischen Eigenschaften und erforscht, zu welch vielfältigen Formen diese führen können.
Omer Arbel sammelte seine ersten Erfahrungen bei Enric Miralles. Der katalanische Architekt entdeckte, probierte und studierte seine Ideen in endlosen Reihen von gebauten Modellen in unterschiedlichsten Maßstäben. Ein solcher Geist weht auch bei Omer Arbel.
Glas, Kupfer, Textilien, Chrome, Holz, Eis, Wachs und Licht sind nur einige der Gestaltungsmittel, die Arbel beschäftigt. Beton ist ein Teil davon. Und in den vergangenen 15 Jahren untersuchte er diverse Techniken, wie er gegossen werden kann.
Aedes zeigt nun eine Auswahl seiner Zeichnungen, Prototypen, Videos und großformatigen Modelle. Eine herabhängende Lichtinstallation aus geblasenem Glas mit dem Titel 28 und fünf Betonskulpturen der Kategorie „Free Explorations“ gehören mit zum Spektrum. Ein paar der letzteren Gruppe stehen im Hof: Die dicken Betonscheiben sind senkrecht aufgestellt und gleichen einer Blume, einem Kranz oder einem Kringel. Sie erinnern entfernt an einen Mühlstein. Diese Objekte haben jedoch offensichtlich keine Funktion und verkünden es schon von Weitem: Omer Arbel beschäftigt sich aus purem Entdecker- und Schaffensdrang mit der fließenden Qualität von Gussbeton und seinen ästhetischen Möglichkeiten. Dennoch: Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf Architektur und die Galerie konzentriert sich hierbei auf vier Arbeiten. Die im Titel enthaltenen Bauwerke und Architekturentwürfe seien kurz vorgestellt.
75 ist ein Architekturmodell für ein Privathaus in der Nähe von Vancouver, das bereits im Bau ist. Auffällig daran sind die skulpturalen Säulenkonstruktionen. Omer Arbel nennt sie Lily Pads, zu deutsch Seerosenblätter. Der Name irritiert zunächst, denn anders als das botanische Vorbild sind die „Blätter“ nicht flach, sondern öffnen sich trompetenartig nach oben. Das Besondere an ihnen ist ihre Produktion. Der Architekt nutzte statt eines Holzgerüsts eine Form aus geotechnischem Gewebematerial, das er zwischen radial angeordneten Sperrholzrippen aufspannte. Der Betonguss ähnelt der palmenförmigen Auffächerung von gotischen Rippenkonstruktionen.
86 ist ein weiteres Architekturmodell. Es zeigt eine Entwurfsstudie für den Unternehmenssitz der Design- und Produktionsfirma Bocci im kanadischen Vancouver (deren Creative Director Omer Arbel ist). Auch bei diesem Projekt experimentiert Arbel mit Betonschalungen. Hierfür nutzt er diesmal Heuballen, die in loses Gewebe gewickelt sind. Der hydrostatische Druck des Betons auf das verdichtete Heu und das Gewebe führt zu plastischen Innenräumen und Fensterumrissen. Die gesamte Fassadenfläche des Gebäudes wird mit einer Diamantseilsäge geschnitten, um komplexe Fensteröffnungen freizulegen.
91 und 94 sind Architekturprojekte, die auf die raue, abgelegene kanadische Landschaft am Meer reagieren. Das Gebäude 91 ist aus Zedernholz und gleicht einer Hängebrücke, die sich zwischen zwei Bergrücken spannt. Das Wohnhausprojekt 94 platziert sich in einem baumbewachsenen Klippengelände. Dieser Entwurf sieht eine Technik vor, bei der ein hochwertiges Zedernabfallprodukt der lokalen Holzindustrie zum Einsatz kommt. Somit soll wieder ein ungewöhnliches Material für Hohlraumformen dienen, in die Beton gegossen werden kann. Die Architektur wirkt wie ein organischer und struktureller Bestandteil der Natur. Und das bezieht sich nicht nur auf das Resultat von Raum und Hülle, sondern auch auf den Entstehungsprozess.
Arbel schreckt nicht davor zurück, neue Wege für Bauwerke zu gehen. Selbst Leggings und Socken hat er bereits auf die Probe gestellt: Sie eignen sich hervorragend, um die Idee von Gussformen auszuloten. Diese und andere untypische Methoden, Substanzen und Arbeitshilfen sind typisch für ihn.
Einblicke in die subtile mainstream-ferne Welt von Omer Arbel fordern dazu auf, genauer hinzusehen, Materialien, Gestalten und Räume langsam auf sich einwirken zu lassen, um nichts zu verpassen, um ihren Entstehungen auf die Schliche zu kommen. Prozess ist bei Arbel alles. „Mit der Zeit werden Moose und Flechten auf den Holzbrocken wachsen und einen lebenden Schleier bilden“ – so stellt sich Arbel sein Projekt 94 im Endeffekt vor. Vielleicht hätte er tatsächlich nichts gegen Animismus.
Omer Arbels geheimnisvolle Arbeiten rund um Architektur und Design lassen Forschergeist und Poesie zusammenrücken. Bei näherer Betrachtung ermuntern sie zu Entdeckungen und neugierigen Fragen. Das Aedes Architekturforum bietet bis zum 22. Oktober Gelegenheit dazu. ♦
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Omer Arbel: Architectural Experiments in Material and Form | 75, 86, 91, 94
29. August – 22. October. 2020, Aedes Architecture Forum
Omer Arbel is a shaper of materials who values the process. With his experimental work, he operates far from the mainstream in art, design and architecture. He prefers to pour concrete into formwork made of geotechnical substances or just hay.
Omer Arbel is an artist, designer and architect based in Vancouver. Instead of names, he gives his works consecutive numbers. The reason is both simple and basic. As soon as an idea begins to manifest itself, it is marked with one or more digits: like a creature that, from now on, can attest a date of birth. But whether Arbel has a sense of animism, we do not know. One thing is for sure: his unrestrained series of experiments revolve around the subject of material. He is fascinated by both the classic materials and those that one would never have thought of as such. He explores their mechanical, physical and chemical properties and the variety of forms they can take.
Omer Arbel gained his first work experiences at Enric Miralles. The Catalan architect discovered, tried and studied his ideas in endless rows of built models in a wide range of scales. This is the same spirit that blows through the work of Omer Arbel.
Glass, copper, textiles, chrome, wood, ice, wax and light are just a few of the design tools that Arbel employs. Concrete is one of them. And over the past 15 years, he has been investigating different techniques of how to pour it.
Aedes is now showing a selection of his drawings, prototypes, videos and large-format models. A suspended light installation made of blown glass entitled 28 and five concrete sculptures in the category „Free Explorations“ are part of the spectrum. A few of the latter group stand in the courtyard: the thick concrete slabs are set up vertically and resemble a flower, a wreath or a ring-shaped pastry. They remotely resemble a millstone. These objects, however, obviously fulfil no specific function and already announce it from afar: Omer Arbel, out of pure urge to discover and create, is dealing with the fluid quality of cast concrete and its aesthetic possibilities. Yet: the primary subject of the exhibition is architecture, and the gallery focuses on four works. The buildings and architectural designs included in the title should be briefly introduced here.
75 is an architectural model for a residential building near Vancouver that is already under construction. What is striking about it are the sculptural column structures. Omer Arbel calls them Lily Pads. The name is, at first sight, irritating because, unlike the botanical model, the „leafs“ are not flat, but open upwardly like trumpets. The unique thing about them is their production. Instead of a wooden framework, the architect used a form made of geotechnical fabric material, which he stretched between radially arranged plywood ribs. The concrete casting resembles the palm-shaped fanning of Gothic ribbed constructions.
86 is another architectural model. It is a draft study for the headquarters of the design and production company Bocci in Vancouver, Canada (whose creative director is Omer Arbel). Again, Arbel is experimenting with concrete formwork. This time he is using hay bales swathed in loose fabric. The hydrostatic pressure of the concrete on the compacted hay and fabric results in plastic interiors and window contours. The entire facade surface of the building is cut with a diamond wire saw to expose intricate openings.
91 and 94 are architectural projects which respond to Canada’s rugged, remote seaside landscape. Building 91 is made of cedar and resembles a suspension bridge that spans between two mountain ridges. The residential building project 94 occupies a tree-covered cliff area. For this design, a technique using a high-quality cedar waste product from the local timber industry is envisaged. Thus again an unusual material is to be used for cavity moulds into which concrete can be poured. The architecture appears as an organic and structural part of nature. And this refers not only to the result of space and its shell but also to the formation process.
Arbel is not afraid to explore new ways of producing buildings. He has even put leggings and socks to the test: They are excellent for exploring the idea of moulds. These and other untypical methods, substances and working tools are typical for him.
Insights into Omer Arbel’s subtle, mainstream-distant world invite us to take a closer look. He invites us to let materials, shapes and spaces slowly sink in so that we don’t miss anything and get to the bottom of their formation. The process is everything with Arbel. “Over time, mosses and lichens will grow on the wood boulders, creating a living veil” – this is how Arbel imagines his Project 94 in the end. Maybe he really wouldn’t mind animism.
Omer Arbel’s mysterious pieces of work around architecture and design bring together the spirit of research and poetry. Upon closer inspection, they encourage discovery and curious questions. The Aedes Architecture Forum offers the opportunity to do so until October 22nd.
TRANSLATION BY ÖZLEM ÖZDEMIR