In einer Stätte des Todes, einem Ort der menschenverachtenden Tragödie, direkt in der Eingangszone von Auschwitz-Birkenau ein kulturelles Werk errichten? Und sei es auch nur von temporärer Art? Eine Installation für Porträtfotos von Holocaust-Überlebenden zu entwerfen ist eine zwiespältige und vielschichtige Aufgabe. Daniel Libeskind löste sie mit schlichten und doch schimmernden Mitteln. Zu sehen ist die Ausstellung bis zum 31. Oktober 2020.
27. Januar 2020 | Özlem Özdemir
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er 1. Juli 2019 ist in Auschwitz-Birkenau ein windiger Tag. Menschen finden sich im Eingangsbereich der Gedenkstätte und des Museums von Auschwitz-Birkenau in Polen zusammen. Unter offenem bedecktem Himmel sitzen sie auf mehreren Reihen von Klappstühlen. Vor ihnen: ein kleiner Baldachin, unter dem mal gesprochen, mal musiziert wird. Der Blick ist frei auf das, worum es bei dieser Eröffnungszeremonie geht: Ein leicht erhobener gerader Weg, der zu beiden Seiten in regelmäßigen Abständen begleitet wird von stelenartigen glänzenden Rechtecken, die nahezu mittig und in Augenhöhe bestückt sind mit Fotos und Texten. Name der Installation: Through the Lens of Faith. Gestaltet wurde sie von Daniel Libeskind.
Der polnisch-amerikanische Architekt hat den Entwurf in Zusammenarbeit mit dem New Yorker Amud Aish Memorial Museum (AAMM) erarbeitet. (Für die Ausführung verantwortlich war das Krakauer Büro VIBES architects.) Ausgestellt werden 21 farbige Porträtaufnahmen von Zeugen des Holocaust. Die Frauen und Männer zwischen 80 und 102 Jahren sind jüdischer, polnischer, römisch-katholischer und sintischer Herkunft und alle sind sie Überlebende des Konzentrationslagers. Caryl Englander, Vorsitzende des International Center of Photography, hat sie über einen Zeitraum von drei Jahren im jeweiligen eigenen Zuhause fotografiert.
Daniel Libeskinds eigene Familiengeschichte ist geprägt von der Judenverfolgung. Sein Vater war in den Arbeitslagern an der Wolga gelandet, seine Mutter in den sibirischen Gulags nahe Nowosibirsk. Seine Familie hat 82 Mitglieder mütterlicher- und väterlicherseits verloren. Umso herausfordernder muss für ihn die Frage geklungen haben, die der jetzige Chefkurator des AAMM Henri Lustiger-Thaler den Holocaust-Überlebenden stellte: Wie drückt sich der Glauben in einem Umfeld aus, das sein kompletter Gegenpol ist?
Die Ergebnisse der Interviews sind zentraler Bestandteil der aneinander gereihten Wandelemente. Mit heller Schrift eingraviert in dunkle transparente Glasflächen, können sie die Besucher lesen. Aber vor allem hat man am Ende die Möglichkeit, diese rechteckigen Deckel wie bei einem Buch aufzuklappen und daraufhin weiter zu lesen, diesmal in den ausdrucksvollen Gesichtern und Augen der Menschen, die Caryl Englander porträtiert hat und von denen die Zeilen stammen.
Standort der temporären Installation ist der Außenraum im Eingangsbereich der Gedenkstätte. Daniel Libeskind entwarf eine gerade Strecke, die auf nur zwei parallelen Linien basiert¹. Dieser quasi implantierte Weg zweigt von der Route, die zur Gedenkstätte und zum Museum Auschwitz-Birkenau führt, ab. Genauso einfach wirkt auch das Muster der sich wiederholenden Tafeln. Das hier vorliegende Motiv der Streifen wird vom Büro erläutert mit dem Hinweis auf die Streifen einer Häftlingsuniform². Die gleiche Gliederung taucht auf in der Wegkonstruktion. Deren Gestaltung erinnert an aufeinanderfolgende Bahnschwellen, die wiederum sehr schnell mit den Transporten in die Konzentrationslager assoziiert werden können.
Die Fotografien sind mit einem unauffälligen Hilfsgestell an etwa drei Meter hohen Edelstahlpaneelen befestigt. Zwischen den Paneelen und den Fotos befindet sich somit ein Abstand von höchstens einem halben Meter. Auf diese Weise haftet der Präsentation etwas Schwebend-Leichtes an. Hinzu kommt die Beobachtung: Die lebendigen Gesichter der ehemaligen Konzentrationshäftlinge sind nicht eingepfercht, nicht gefangen in einem (konventionellen) Bilderrahmen, sondern sind losgelöst und frei von ihnen und können atmen.
Die Natur scheint es zu sein, die den eigentlichen Rahmen darstellt, die Natur und mit ihr das Leben. Während die Menschen den Weg der Installation beschreiten – mal nach links und mal nach rechts wandelnd, umgeben von Grün und Bäumen, wahrscheinlich auch von den Geräuschen der Vogelwelt und nicht zuletzt den Paneelen, die an ihren Außen- und Randflächen so glatt und glänzend sind, dass sie mit ihren Spiegelungen die Wahrnehmung des Raums zerstückeln und zerbrechen und gleichzeitig alles verwischen und miteinander verweben -, währenddessen also geschieht etwas Bemerkenswertes.
Bei aller Fokussierung auf den Inhalt der Ausstellung: Die Besucher werden, ganz wie nebenbei, natürlichen Reflexionseffekten ausgesetzt und damit einer Atmosphäre der gleitenden Übergänge. Was ist Baum, was ist Stahl? Was ist nachgiebig und lebendig, was ist hart und tot?
Ein Hauch von René Magritte weht zwischen den Wandabschnitten3. Und die Besucher werden, wenn dieser Begriff überhaupt in die Nähe eines historischen Ortes des Schreckens gebracht werden kann, verzaubert. Aber sie tun das vielleicht nicht ohne sich zu fragen: Ist dies unter den verstörenden Umständen überhaupt möglich? Sie werden, aufgrund der Spiegelungen, irritiert und inspiriert. Darüber hinaus werden sie selbst, gewissermaßen durch ihr Hindurchwandeln im Raum zwischen den spiegelnden Flächen, Teil der Installation. Und es ist, als würden sich die bewegenden Körper mit den ausgestellten Überlebenden des Holocaust überschneiden. Wohin diese Beobachtungen und Gedanken und Gefühle führen, bleibt jedem persönlich überlassen.
Das große Thema der Fotoinstallation steckt im kleinen Wort „faith”. Der englische Begriff kann mit Glauben oder Gläubigkeit, aber auch mit Vertrauen übersetzt werden, all das, was die porträtierten alten Menschen, deren Gesichter in dieser Ausstellung studiert werden können, auszeichnet. „I never thought about it, never, until I thought of the only two survivors of my (…) family (…) and I thought, what can one do to communicate these amazing stories and the amazing eyes of these elderly men and women, to bring a future to this place which had no future”, sagte der Architekt am 1. Juli letzten Jahres in seiner knapp fünfminütigen Eröffnungsrede4. Kurz bevor er ein kleines Buch hervorholt und darin nach einer bestimmten Stelle sucht, hebt er noch einen letzten Gedanken hervor: Wie wichtig sind doch diese persönlichen Lebensgeschichten nicht nur für „ihr“, sondern auch „unser“ Überleben (womit er vielleicht auch gleichzeitig die visuelle Vermischung der Besucher und der ehemaligen Lagerinsassen innerhalb der Installation andeutet).
Bei dieser Vernissage machte Daniel Libeskind – der spätestens durch seinen mit „Between the Lines“ betitelten Entwurf für das Jüdische Museum in Berlin weltbekannt wurde – nicht viele Worte um seinen Beitrag. Stattdessen konzentrierte er sich in seiner kurzen Ansprache auf die polnische Dichterin und Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska. Am Ende findet er die gesuchte Seite im mitgebrachten Buch und zitiert aus ihrem Gedicht Wszelki wypadek – zu Englisch There But for the Grace und zu deutsch Alle Fälle5 – unter anderem die folgenden Sätze:
Zum Glück gab’s den Wald.
Zum Glück keine Bäume.
Zum Glück das Gleis, den Haken, den Balken, die Bremse,
die Nische, die Kurve, den Millimeter, eine Sekunde.
Zum Glück schwamm ein Strohhalm im Wasser.
Mit einer Dichterin schließt der Architekt also ab. Und allein damit gibt er zu verstehen: Zwischen den Linien bzw. Zeilen der Ausstellung in Auschwitz-Birkenau Through the Lens of Faith gibt es viel zu lesen.
Heute vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Die Ausstellung dauert bis zum 31. Oktober 2020. ♦
¹ Ursprünglich sah der Entwurf von Libeskind eine kreisförmige Anordnung vor. Dieser Ansatz wurde jedoch von den Museumsbehörden von Auschwitz als „zu künstlerisch“ empfunden. Vgl. Interview von Tim Teeman, online unter https://www.thedailybeast.com/architect-daniel-libeskind-on-how-to-transform-horror-into-art-from-auschwitz-and-the-holocaust-to-911 (letzter Zugriff 16.01.2020): “They thought it was too artistic,” said Libeskind. “I understand that. This is sacred land. You are in the presence of death.” He had originally designed the panels as facing the visitor in a circle. “I didn’t think it was artistic. I thought it was informative. It was a challenge to get this approved, a transformation of the original idea. But I’m very glad now that they see it as a tribute to the strength of faith.”
2 Vgl. https://libeskind.com/work/through-the-lens-of-faith/; letzter Zugriff 16.01.2020
3 Vgl. „La Carte Blanche“ von René Magritte (1965), in dem eine Reiterin im Wald mit den umgebenden Baumstämmen gleichsam visuell verschmilzt
4 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=JtyYfVdx28Y&feature=youtu.be; Libeskind ab 47:47; letzter Zugriff 16.01.2020
5 Für deutsche Übersetztung siehe z.B. unter: https://www.deutsches-polen-institut.de/bibliothek/literarisches-portrait/literarisches-portrait-1/szymborska-alle-faelle/; letzter Zugriff 19.01.2020 / Für englische Übersetzung siehe z.B. unter: Sounds, Feelings, Thoughts: Seventy Poems by Wisława Szymborska, Translated and Introduced by Magnus J. Krynski and Robert A. Maguire
Through the Lens of Faith: Daniel Libeskind’s shimmering and simple installation in Auschwitz-Birkenau
To build a work of culture in a place of death, a place of inhuman tragedy, right in the entrance zone of Auschwitz-Birkenau? Even if only temporarily? Creating an installation dedicated to portrait photographs of Holocaust survivors is an ambivalent and complex task. Daniel Libeskind solved it with simple yet shimmering means. The exhibition can be seen until October 31, 2020.
July 1, 2019 is a windy day in Auschwitz-Birkenau. People gather in the entrance area of the Auschwitz-Birkenau Memorial and Museum in Poland. Under an open overcast sky, they sit on several rows of folding chairs. In front of them: a small canopy under which people either talk or play music. The view is clear of what this opening ceremony is all about: a slightly raised straight path, which is accompanied on both sides at regular intervals by stele-like shiny rectangles, which are equipped with photographs and texts almost in the middle of them and at eye level. Name of the installation: Through the Lens of Faith.
The Polish-American architect Daniel Libeskind developed the design in cooperation with the New York Amud Aish Memorial Museum (AAMM). (The Cracow-based firm VIBES architects was responsible for the execution). The exhibition features 21 colour portraits of Holocaust witnesses. The women and men between 80 and 102 years of age are of Jewish, Polish, Roman Catholic and Sintish origin and all of them are survivors of the concentration camp. Caryl Englander, Chair of the International Center of Photography, took photographs of them over a period of three years in their own homes.
Daniel Libeskind’s own family history is marked by the persecution of the Jews. His father had ended up in the work camps on the Volga, his mother in the Siberian Gulags near Novosibirsk. His family has lost 82 members on his mother’s and father’s side. Therefore, the question that the current chief curator of the AAMM, Henri Lustiger-Thaler, asked the Holocaust survivors must have sounded all the more challenging to Libeskind: How does faith express itself in an environment that is its complete antipole?
The results of the interviews are a central part of the wall elements which are lined up next to each other. Engraved with light-coloured writing into dark transparent glass surfaces, visitors can read them. But above all, in the end, one has the opportunity to open these rectangular lids like a book and then continue reading, this time in the expressive faces and eyes of the people Caryl Englander has portrayed and from whom the lines originate.
The location of the temporary installation is the outdoor space in the entrance area of the Auschwitz Memorial. Daniel Libeskind has designed a straight track based on only two parallel lines¹. This quasi implanted path branches off the route leading to the Memorial and Museum Auschwitz-Birkenau. The pattern of the repeating panels appears just as simple. The stripe motif presented here is explained by the office with reference to the stripes of a prisoner’s uniform². The same structure emerges in the path construction. Its design is reminiscent of successive railway sleepers, which in turn can very quickly be associated with the transports to the concentration camps.
The photographs are attached to approximately three meter high stainless steel panels with an inconspicuous auxiliary frame. There is therefore a distance of at most half a meter between the panels and the photographs. In this way, the presentation has something floating and light about it. Added to this is the observation: the living faces of the former concentration prisoners are not crammed in, not trapped in a (conventional) picture frame, but are detached and free of them and can breathe.
It seems to be Nature that provides the actual framework, Nature and with it: Life. While people walk along the path of the installation – sometimes walking to the left and sometimes to the right, surrounded by greenery and trees, probably also the sounds of the world of birds and, last but not least, the panels, which are so smooth and shiny on their outer and edge surfaces that their reflections fragment and shatter the perception of the space and at the same time blur and interweave everything — thus, something remarkable happens during the installation.
While focusing on the content of the exhibition, the visitors are exposed to natural reflection effects, as if by chance, and thus to an atmosphere of gliding transitions. What is Tree, what is Steel? What is pliable and alive, what is hard and dead?
A touch of René Magritte blows between the wall sections3. And visitors are enchanted, if this term can be brought anywhere near a historical site of horror at all. But they may not do so without asking themselves: Is this even possible under the disturbing circumstances? They are irritated and inspired by the reflections. Moreover, they themselves become part of the installation, so to speak, by walking through the space between the reflecting surfaces. And it is as if the moving bodies overlap with the exhibited Holocaust survivors. Where these observations and thoughts and feelings lead to is up to each individual.
The big theme of the photo installation lies in the small word faith. The English term means belief, but also trust, all that distinguishes the old people portrayed, whose faces can be studied in this exhibition. „I never thought about it, never, until I thought of the only two survivors of my (…) family (…) and I thought, what can one do to communicate these amazing stories and the amazing eyes of these elderly men and women, to bring a future to this place which had no future“, said the architect on 1 July last year in his opening speech of almost five minutes4. Shortly before he pulls out a small book and looks for a specific location in it, he emphasizes one last thought: how important these personal life stories are not only for „their“ survival but also for „our“ survival (which perhaps also suggests the visual mixing of the visitors and former camp inmates within the installation).
At this vernissage, Daniel Libeskind – who became world-famous at the latest with his design for the Jewish Museum in Berlin entitled „Between the Lines“ – did not say much about his contribution. Instead, in his short speech he concentrated on the Polish poet and Nobel Prize winner Wisława Szymborska. At the end, he finds the page he was looking for in the book he brought along and quotes among others the following sentences from her poem Wszelki wypadek – in English There But for the Grace and in German Alle Fälle5:
Luckily, there was a wood.
Luckily there were no trees.
Luckily there was a rail, a hook, a beam, a brake,
a frame, a bend, a millimeter, a second.
Luckily a straw was floating on the surface.
So the architect concludes with a poetess. And that alone is his way of making us understand: There is much to read between the “lines” of the exhibition in Auschwitz-Birkenau Through the Lens of Faith.
It was 75 years ago today, on 27 January 1945, that the Red Army liberated the Auschwitz-Birkenau extermination camp.
The exhibition will run until 31 October 2020.
Translation by Özlem Özdemir
1 Originally, Libeskind’s design was based on a circular arrangement. However, this approach was considered „too artistic“ by the museum authorities of Auschwitz. Cf. interview by Tim Teeman, online at: https://www.thedailybeast.com/architect-daniel-libeskind-on-how-to-transform-horror-into-art-from-auschwitz-and-the-holocaust-to-911 (letzter Zugriff 16.01.2020): “They thought it was too artistic,” said Libeskind. “I understand that. This is sacred land. You are in the presence of death.” He had originally designed the panels as facing the visitor in a circle. “I didn’t think it was artistic. I thought it was informative. It was a challenge to get this approved, a transformation of the original idea. But I’m very glad now that they see it as a tribute to the strength of faith.”
2 Cf. https://libeskind.com/work/through-the-lens-of-faith/; last access date 16.01.2020
3 Cf. „La Carte Blanche“ by René Magritte (1965), in which a female rider in the forest merges visually with the surrounding tree trunks.
4 Cf. https://www.youtube.com/watch?v=JtyYfVdx28Y&feature=youtu.be; Libeskind ab 47:47; last access date 16.01.2020
5 For German translation see e.g. under: https://www.deutsches-polen-institut.de/bibliothek/literarisches-portrait/literarisches-portrait-1/szymborska-alle-faelle/; last access date 19.01.2020 / For English translation see e.g. under Sounds, Feelings, Thoughts: Seventy Poems by Wisława Szymborska, Translated and Introduced by Magnus J. Krynski and Robert A. Maguire