ZWEI Interiors Architecture lieferte für Melbourne Design Week 2020 ein temporäres Café aus einem Metallgerüst, gebrauchten Milchkisten, Solarpaneelen und einer Melange aus Multi-Kunststoffen
21. Mai 2020 | Özlem Özdemir
Citizen war einmal ein kleines Café. Noch in diesem Jahr, im März, stand das unscheinbare eingeschossige Gerüst weitab von europäischen Gefilden im öffentlichen Strom einer Fußgängerzone von Melbourne, der exklusiven Flaniermeile entlang des Yarra River: Southbank Promenade. Es war umringt von einer Silhouette aus Crown Towers, Eureka Tower und anderen mehr oder weniger beachtlichen Kolossen. Kurz vor dem Übertritt zur anderen Uferseite, vor den Füßen der Queensbridge und Sandridge Bridge bot sich den Menschen ein Szenario, für den genau dieser Ort wie geschaffen schien: Klein gegen Groß.
Die Vergangenheitsform ist nicht unerheblich. Denn Citizen ist eine temporäre Angelegenheit, eine quasi nomadische Konstruktion. Eigentlich ist Citizen kein Café, sondern ein Pop-up-Phänomen, oder am ehesten noch eine Art von Station zum Kaffeetanken mit erzieherischem Nebeneffekt.
Anlass zu diesem nur 80 m² großen Projekt war die Frage: “How can design shape life?” So lautete das Motto, mit dem sich die Teilnehmer von Melbourne Design Week 2020 konfrontiert sahen. Und das war auch der Startschuss für ZWEI Interiors Architecture.
ZWEI klingt nicht zufällig nach der deutschen Zahl. Dahinter stecken zwei Architektinnen und eine von ihnen ist Hanna Richardson, der in Deutschland aufgewachsene und ausgebildete Part. Seit 2006 bildet sie mit Katherine Kemp ein australisches Duo. Beide widmen sich in ihrer Arbeit sowohl der Architektur als auch deren Innenräumen. Gastwirtschaft entwickelte sich dabei zum Schwerpunkt. Und nach bereits zwei realisierten Projekten für Code Black tat man sich mit der Rösterei für die Design Week erneut zusammen. Four Seasons Commercial Interiors kam für die Innenraumgestaltung hinzu.
Das Ergebnis der Teamarbeit ist Citizen.MDW: eine Fallstudie für einen Kaffeepavillon, der die Grenzen der Nachhaltigkeit auslotet. Ein wesentlicher Teil der Designstudie war daher der technische Aspekt, der gleichzeitig eine kreative Rolle spielt. Technik und Konstruktion hat einen ästhetischen Einfluss auf diesen Raum. Und in gewisser Weise hat er auch eine erzieherische Wirkung auf die Menschen, die ihn aufsuchen. Denn das Aussehen der offengelegten Bauelemente- und materialien macht neugierig auf ihre Konsistenz, ihre Zusammenfügung und die Art ihrer Herstellung.
Den naheliegensten Ansatz für Nachhaltigkeit und Energieeinsparung bietet die Gesamtstruktur: Ihr Auf- und Abbau musste schnell und einfach sein. Die Bauelemente setzen sich daher aus einfachen Standardprodukten zusammen wie Gerüste (die an Baustellen und Freilichtbühnen erinnern) und Milchkästen aus Kunststoff. Aber auch fortschrittlichere Technologien wie Sonnenkollektoren gehören zum System. Sie bilden das Dach und laufen um den oberen Teil der Fassade herum. Daneben kommen netzunabhängige Batterien von Tesla zum Einsatz, die in Form von „Tesla-Powerwalls“ am Gerüst befestigt sind. Auf diese Weise produziert und speichert der Pavillon seinen eigenen Strom, um seinen Zweck – die Zubereitung von Kaffee – zu erfüllen.
Allerdings: Nach einem Geschirrspüler sucht man bei Citizen vergeblich. Beim Testen der elektrischen Belastung fiel er durch. Daher entschied das Designteam, dass die Besucher ihre eigenen Becher mitbringen müssen. Citizen macht also seinem Namen alle Ehre und zeigt: Nicht nur auf Forschung und Fortschritt, sondern auch auf die Mitwirkung der Nutzer, der allgemeinen Bevölkerung, kommt es an. Natürlich trug auch der Entwurf an sich zum umweltbewussten Verhalten bei. Um etwa das Ziel „Null-Energieemissionen“ zu erreichen, wurde das Gerüst nur gemietet und nach der Veranstaltung zurückgegeben. Und die Lieferanten der 118 Solarpaneele erhielten ihre Ware am Ende wieder. Auf diese Weise betrugen die Kosten für Citizen nur ein Drittel der Summe, die bei der Herstellung einer permanenten Struktur entstanden wäre.
Ein Sprung in die Innenraumatmosphäre offenbart schnell wie stark das strukturelle Ambiente sie prägt. Die fensterlose Umhüllung ist licht- und luftdurchlässig. Große Öffnungen gibt es nur in Form der zwei gegenüberliegenden Zugänge, die die Längsseiten des Pavillons in der Mitte durchschneiden. Der Durchgang, der hierdurch entsteht, hat eine raumteilende Funktion. Auf diese Weise platziert sich an einem Ende die kreisförmige Kaffeetheke und am anderen Ende steht ein ebenso rundgeformter Raum, die zunächst verblüffende „Mushroom Gallery“. Die kleine exotisch anmutende Ausstellung besteht aus hohen Röhren, in denen Champignons auf Kaffeesatz wachsen – ein weiterer Anschauungsunterricht in Sachen Nachhaltigkeit. Alle raumbildenden Wände, die die beiden Zonen voneinander abgrenzen, sind im Rund angeordnet. Ihre Bestandteile, die wiederverwendbaren Milchkisten, erhalten ihre vertikale Stabilität durch festgeklemmte Gurtbänder und in horizontaler Richtung sind es schließlich Hanfbinder, die alles zusammenhalten.
Citizen hat eine dunkle Ausstrahlung, wenn man von der hellen Metallkonstruktion absieht. Dennoch macht es gerade vor der Kulisse der Metropole einen leichten und flexiblen Eindruck. Nicht der Kaffee ist „To Go“, sondern gleich das ganze Kaffeehaus.
Nur ein einziges polychromes Element sticht hervor: recyceltes Plastik mit einem fröhlichen Farbmix. Ihr buntes tupfartiges Muster lässt Assoziationen aufkommen wie Glasmurmeln oder die Marmorierung von Knete, die aus verschiedenen Farben zusammengemischt ist. Dieses Material sorgt für erfrischende Akzente, sowohl in der rundgeschnittenen Thekenplatte, als auch in den Röhren der bereits erwähnten Mushroom Gallery. Bei Letzteren handelt es sich um recycelte Kunststoffrohre. Diese stammen von einem Lieferanten, der Altkunststoffabfälle zu Flocken zerkleinert, erhitzt und den Kunststoff zu einem verarbeitungsfähigen Plattenmaterial umformt und in verschiedene Formen biegt. Normalerweise sind diese Produkte gedacht für die Drainage von Gebäuden, für Bewässerung und Feuerwehr. Kreative Zweckentfremdung ist also Teil des regenerativen Anspruchs.
Eine weitere, und damit die letzte, Ebene sollte nicht vergessen werden: der Boden. Auf den ersten Blick wirkt Citizen wie eine mobile und spontan gelandete Fotovoltaikanlage, die eine Fußgängerzone zur Landefläche erkoren hat und dessen Belag – quadratische dunkelgraue Steinplatten – sie sich direkt einverleibt. Ein anderer interessanter Zufall ist von grafischer Art: Das orthogonale Raster der Platzoberfläche durchdringt den gesamten Baukörper. Mehr noch: Es ist, als würde das ganze rechteckige und liniendurchzogene Mustergeflecht des Gerüsts, der Milchkisten, der Solarpaneelen (samt ihrer fein schimmernden Gitternetze) die Fassaden der unmittelbaren Umgebung architektonisch widerspiegeln oder in sich vereinen. Es ist, als wollte der Kleine den Großen antworten. Als wollte das neue System dem herkömmlichen System etwas erwidern.
Und das ist die Antwort auf die Frage: How can design shape life? Sie beruht auf der umweltbewussten Kreativität, der neugierigen und aktiven Mitwirkung der aufgeschlossenen Stadtbewohner. Dieses Credo präsentiert sich en miniature bereits in der Frontfassade. Hier hängen die einzelnen Buchstaben des Namens aus wiederverwertetem Plastikmaterial. Eine Melange aus Multi-Kunststoffen, aus dem immer weitere neue Kunststoffe hervorgehen können. Auf das der Kreislauf der Wiederverwertung nie enden möge. Citizen war einmal ein kleines Café. Aber das kleine Märchen von Melbourne hat das Potenzial weltweit Wirklichkeit zu werden. ♦
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Citizen.MDW by ZWEI: A coffee house To Go
ZWEI Interiors Architecture supplied a temporary café for Melbourne Design Week 2020, consisting of a metal framework, used milk crates, solar panels and a melange of multi-plastics.
Citizen was once a small café. This very year, in March, the inconspicuous one-storey scaffolding stood far away from European realms in the public stream of a pedestrian zone in Melbourne, the exclusive promenade along the Yarra River: Southbank Promenade. It was surrounded by a silhouette of Crown Towers, Eureka Tower and other more or less remarkable colossuses. Shortly before crossing over to the other side of the river, at the feet of Queensbridge and Sandridge Bridge, the people encountered a scenario for which exactly this place seemed to be made for: Small against Big.
The past tense is not insignificant. For Citizen is a temporary matter, a quasi nomadic construction. Actually, Citizen is not a café, but a pop-up phenomenon, or rather a kind of stopover for filling up with coffee along with an educational side effect.
The reason for this only 80 m2 project was the question: „How can design shape life?“ This was the motto confronting the participants of Melbourne Design Week 2020. And that was also the starting signal for ZWEI Interiors Architecture.
ZWEI does not sound like the German number by chance. There are two architects behind it, and one of them is Hanna Richardson, the member who grew up and completed her training in Germany. Since 2006 she has been forming an Australian duo with Katherine Kemp. In their work, both devote themselves to architecture and its interiors. Hospitality has become the main focus. And after two successful projects for Code Black, they once again teamed up with the roasting company for Design Week. Four Seasons Commercial Interiors came on board for the interior design.
The result of the teamwork is Citizen.MDW: a case study for a coffee pavilion that explores the limits of sustainability. An essential part of the design study was, therefore, the technical aspect, which also plays a creative role. Technology and construction have an aesthetic influence on this space. And in a way, it also has an educational effect on the people who visit it. For the appearance of the exposed building elements and materials arouses curiosity about their consistency, their assembly and the way they are produced.
The most obvious approach to sustainability and energy saving is the overall structure: its assembly and dismantling had to be quick and easy. The construction elements are therefore made up of simple standard products such as scaffolding (reminiscent of building sites and open-air stages) and plastic milk crates. But the system also includes more advanced technologies such as solar panels. They form the roof and run around the upper part of the façade. Also, off-grid batteries from Tesla come into play, which are attached to the scaffolding in the form of „Tesla Powerwalls“. In this way, the pavilion produces and stores its own electricity to fulfil its purpose – the preparation of coffee.
However: You will look in vain for a dishwasher at Citizen. When testing the electrical load, it failed. So the design team decided that visitors had to bring their own cups. In other words, Citizen lives up to its name and shows: Not only research and progress, but also the cooperation of the users, the general public, is important. Of course, the design itself also contributed to environmentally conscious behaviour. To achieve the goal of „zero energy emissions“, for example, the scaffolding was only rented and returned after the event. And the suppliers of the 118 solar panels received their goods back in the end. As a result, Citizen’s expenses were only a third of what it would have taken to build a permanent structure.
A leap into the interior atmosphere quickly reveals how strongly the structural ambience shapes it. The windowless wrapping is permeable to light and air. Large openings only exist in terms of the two opposite entrances, which cut through the long sides of the pavilion in the middle. The passage that is created by this has a space-dividing function. This is how the circular coffee counter occupies a position at one end and an equally circularly shaped room, the at first surprising „Mushroom Gallery“, stands at the other end. The small, exotic-looking exhibition consists of tall tubes in which mushrooms grow on coffee grounds – another illustrative lesson in sustainability. All the space-creating walls that separate the two zones are arranged in a curved pattern. Their components, the reusable milk crates, get their vertical stability from clamped straps and in the horizontal direction it is hemp binders that hold everything together.
Citizen has a dark aura, apart from the bright metal construction. Nevertheless it makes a light and flexible impression, especially against the backdrop of the metropolis. Not the coffee is „To Go“, but the whole coffee house.
Only one polychrome element stands out: recycled plastic with a cheerful mix of colours. Its motley dot-like pattern evokes associations such as glass marbles or the marbling of plasticine mixed from different hues. This material provides refreshing accents, both in the round cut countertop and in the tubes of the already mentioned Mushroom Gallery. The latter contains recycled plastic tubes. They originate from a supplier who crushes waste plastic into flakes, heats them, and transforms the plastic into a processable sheet material and bends it into various shapes. Normally these products are intended for drainage of buildings, irrigation and fire services. Creative misappropriation is therefore part of the regenerative claim.
Another, and with it, the final level should not be forgotten: the floor. At first glance, Citizen appears to be a mobile and spontaneously landed photovoltaic plant that has chosen a pedestrian zone as its landing area and whose surface – square dark grey stone slabs – it directly incorporates. Another interesting coincidence is of a graphic nature: the orthogonal grid of the square’s surface penetrates the entire structure. Moreover, it is as if the whole rectangular and linear pattern of the scaffolding, milk crates, solar panels (with their finely shimmering grids) architecturally reflects or unites the facades of the immediate surroundings. It is as if the little one wanted to answer the big one. As if the new system wanted to respond to the conventional system.
And this is the answer to the question: How can design shape life? It all comes down to environmentally conscious creativity, the curious and active participation of open-minded city dwellers. This credo already presents itself in miniature in the front façade. Here the individual letters of the name made of recycled plastic material are hanging. A melange of multi-plastics, from which more and more new plastics can emerge. And may the cycle of recycling never end. Citizen was once a small café. But the little fairy tale of Melbourne has the potential to become a global reality.
TRANSLATION BY ÖZLEM ÖZDEMIR