Mirai von EMMANUELLE MOUREAUX
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EIN STÜCK BUNTE ZUKUNFT VON EMMANUELLE MOUREAUX

Emmanuelle Moureaux ruft uns zu: Lächle und stell dir eine bunte Zukunft vor. Der Anlass lautet Mirai, ihre neueste farbenfrohe Installation in Tokio mit Zahlen aus Stahl

7. Oktober 2020 | Özlem Özdemir

 

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mmanuelle Moureaux hat dieses Jahr für das neue Wohlfühlviertel von Tokio Green Springs eine kleine Attraktion beigesteuert. Das turmartige Objekt heißt Mirai und steht einladend auf dem Vorplatz einer Mehrzweckhalle. Sein Zweck ist unübersehbar: Verlockung von Groß und Klein. Ihre Mission steckt zwischen den polychromen Zeilen aus Zahlen: die Erinnerung an den wundersamen Verlauf der Jahre und Jahrzehnte.

Mirai basiert auf fünf parallelen Scheiben in zehn Schichten. Diese wiederum bestehen aus zwei aufeinanderfolgenden Jahreszahlen und damit aus acht eng beieinanderliegenden stählernen Ziffern. Jede Jahreszahl hat einen eigenen Farbton und jede anschließende Jahreszahl verhält sich, soweit wie möglich, gemäß den gleitenden Übergängen des Lichtspektrums. Ab mittlerer Höhe sind die zehn Schichten, die durch schmale Gänge getrennt sind, miteinander verbunden durch horizontale Zahlen. Diese stehen für die zurückliegenden Jahre und sollen mit ihrer weißen, quasi verblassten, Farbe ausdrücken, wie die Vergangenheit die Zukunft stützt. Der Turm ist vier Meter hoch, knapp zwei Meter breit und etwa eineinhalb Meter tief.

Mirai Zahlenreihen
Courtesy of v2com // Photo by Daisuke Shima
Emmanuelle Moureaux
Courtesy of v2com // Photo by Daisuke Shima
Emmanuelle Moureaux Mirai Skulptur mit Kind
Courtesy of v2com // Photo by Daisuke Shima

 

Aber den kleinen Kindern im Video, das Emmanuelle Moureaux auf Instagram zeigt, steht der Sinn nicht nach Messen und Mathematik: Lieber laufen sie drauflos und erforschen die schillernden Korridore der Zeit. Neben dem Video schreibt sie: Lächle und stell dir eine bunte Zukunft vor. Und der japanische Titel Mirai bedeutet genau das: Zukunft.

Als Teil von Moureaux‘ fortlaufender Installationsserie 100 colors visualisiert Mirai die nächsten 100 Jahre. Hundert verschiedene Farbschattierungen decken das Spektrum zwischen 2020 bis 2119 ab. Das Ganze liest sich wie ein gebauter Glückwunsch für die jüngst eröffnete Stadtregion, aber auch wie eine Liebes- und Treueerklärung der Emmanuelle Moureaux an die japanische Hauptstadt.

Und Mirai ist nicht ihre erste Deklaration dieser Art. Die in Bordeaux ausgebildete Architektin entdeckte Japan Mitte der 90er-Jahre bei ihrer ersten Reise in das Land, das sie bis dahin nur aus der japanischen Literatur kannte. Der Studienausflug entpuppte sich als eine ästhetische Offenbarung. 1996 ließ sie sich in Tokio nieder. Sie lernte zunächst Japanisch und legte dann die vor Ort notwendige Prüfung zur Architektin ab, bevor sie 2003 ihr eigenes Büro eröffnete. Seit 2013 ist sie international vor allem bekannt für 100 Colors. Die Idee dieser Installationsserie ist, hundert Farben an einem Ort zusammenzubringen. Die Projekte sind temporär und bestehen oft aus hängenden musterhaften Gegenständen: flatternde Stoffbahnen, sich drehende Blüten, fast schwebende Figuren. In ihren beweglichen Zusammenballungen erinnern viele dieser Installationen an Schwärme von Fischen, Vögeln oder Insekten. Aber all diese Gestalten verlieren sich im fließenden Farbkanon, der bei Moreaux meist einen pastellig-zarten Effekt erzielt.

„Zuerst dachten viele Japaner, ich interessiere mich für Farben, weil ich Französin bin“, sagt Moureaux in einem Film. Paris ist für sie ein Ort voller Stein und in Sachen Chromatik wenig spektakulär. In Tokio war sie überwältigt von der Anzahl von Ladenschildern und den fliegenden Stromkabeln und sie entdeckte ihre Faszination für Farben. Sie griff ihre Impressionen von den urbanen Accessoires Japans auf und übertrug sie auf ihre Architektur, so etwa auf vier Niederlassungen der Sugamo Shinkin Bank.

Diesen intrakulturellen Transfer nutzt Moureaux aber auch für den Rest ihrer Arbeit. Ihr Oeuvre ist durchzogen von einem einzigen System, ihrem Designkonzept Shikiri. Im Japanischen bedeutet dieser Begriff „den Raum mit Farben unterteilen oder schaffen“ und drückt ihre Schlüsselerfahrung von Tokio aus: die vielfältigen Farben und Ebenen einer Stadt. Bei jedem ihrer Projekte greift sie auf dieses Konzept zurück, sei es beim handlichen Mikadospiel (2013) oder bei weitläufigen Werken wie Universe of Words (2019).

Emmanuelle Moureaux Mirai Zahlenskulptur
Courtesy of v2com // Photo by Daisuke Shima

 

In Mirai stellt Emmanuelle Moureaux die Farbe als Struktur aus, als Auftürmung, als Schichtung, als Shikiri in Reinkultur. Man muss aber nicht von der Moureauxschen Methodik wissen, um einen Zugang zu dieser Arbeit zu finden. Dieser Quader gleicht einem perfekt geschnittenen, aufgeblähten Stück Schwamm oder einem hochporösen Festkörper (etwa einem überdimensionalen Aerogel). Und es scheint: Der Stoff, aus dem er gemacht ist, ist Farbe pur. Sie ist das Material und sie ist es, die den Raum kreiert.

Emmanuelle Moureaux hat mit Mirai ihr erstes permanentes Objekt im öffentlichen Raum geliefert. Seine Luftigkeit und Durchlässigkeit darf nicht täuschen: Es gehört zu den wenigen ihrer Entwürfe, die statisch und fest konstruiert sind. Kein Wunder, denn schließlich sollte es – laut Zahlen – die Spanne eines ganzen Jahrhunderts überdauern. Wie ein irisierender Markierungspunkt steht es auf einem Platz, verführt zur Interaktion und zieht die Menschen ins neue Stadtareal. Es gehört nicht zu den Werken, mit denen die Architektin, Designerin und Künstlerin etwas Neues wagt. Vielmehr wiederholt sie eine Präsentation von Shikiri, ihrer ganz persönlichen Gestaltungsphilosophie. Nicht von ungefähr versieht sie alle Teile ihrer Serie 100 Colors mit einer Nummer (Mirai etwa ist No 33). Damit deutet sie an, wie unerschöpflich und endlos die Kombinationsmöglichkeiten ihrer Mittel sind. Das Besondere an Mirai jedoch ist, dass es wie ein Exempel wirkt, wie eine Musterprobe, eine Zusammenfassung, ein Konzentrat ihres bisherigen Schaffens. Klein und kompakt versprüht es den für Moureaux typischen hellen und leichten Geist, den wohltuenden und erfrischenden Regenbogen-Charme. Mirai ist ein künstlerisches Maskottchen, das von einer bunten Zukunft er-zählt. ♦

 

Mirai Zahlen Detail
Courtesy of v2com // Photo by Daisuke Shima

 

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