Gleich mit mehreren kleinen Plätzen zieht die Bezirksverwaltung mitten ins katalanische Tortosa. So bekommen die Bürger des geschichtsträchtigen Bischofssitzes eine neue Anlaufstelle für ihre Fragen des modernen Alltags. Und mit ihr zusammen erhält die dicht bebaute Altstadt ein Stück Landschaft à la Carme Pinós.
10. November 2019 | Özlem Özdemir
Carme Pinós schloss ihr Studium an der Escuela Técnica Superior de Arquitectura de Barcelona ab. Vier Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Ihr Vater wollte, dass ihr großer Bruder Architekt wird; als dieser jedoch die Medizin bevorzugte, wusste Carme Pinós, dass sie an der Reihe war. Während sie Architektur studierte half sie aber auch ihrer Mutter dabei, den landwirtschaftlichen Betrieb im katalanischen Balaguer zu verwalten. Vielleicht ist es diese persönliche Erfahrung, in der ihre Begabung wurzelt, Bauwerke in Beziehung zur Topographie und zur Landschaft zu setzen.
Jeder hat es schon einmal beobachtet: Wege in hügeligen Gegenden verlaufen in Zick-Zack-Formen; Tiere und Menschen setzen auf diese Weise ihre Trampelpfade; Autos fahren auf schlaufenartigen Asphaltstraßen Berge hoch und runter. Nichts anderes tut Carme Pinós in der von ihr und ihrem damaligen Ehemann Enric Miralles entworfenen Internatschule in Morella. Der Schulbau ist in Schichten gestaffelt und versucht gleichsam in diagonalen Linien den Berg hochzuklettern. Man könnte sagen, dass Carme Pinós in Morella ein Zeichen gesetzt hat und damit auch ihr Kennzeichen, das in fast allen ihrer folgenden Werke aufflackert. Gezeigt hat sich mit diesem Projekt, das 1986 gemeinsam begonnen und 1994 von ihr allein beendet wurde, vor allem: Die Architektur, so wie sie Carme Pinós versteht, braucht Landschaft, nicht nur in der Natur, sondern auch in der Stadt.
In diesem Licht sollte man auch ihr neuestes öffentliches Gebäude betrachten: eine Bezirksverwaltung, die über ein Bürgerbüro verfügt für diverse administrative Angelegenheiten. Mit einer Fläche von rund 6.500 m2 umfasst sie mehrere Funktionen, als da u.a. sind: Eine Rezeption, Arbeitsbereiche, Versammlungsräume, Festsaal und Archivräume. Ihre Adresse lautet Carrer Montcada in Tortosa. Dies ist eine Bischofsstadt mit knapp 34.000 Einwohnern, gelegen in der katalanischen Provinz Tarragona, unweit der Mündung des Flusses Ebro. Die Stadt ist klein; dafür kann sie auf eine vielseitige Geschichte zurückblicken. Geprägt wurde sie u.a. von den Iberern, Römern und Mauren bis hin zu den Juden und den Christen. Tortosa war ein Schauplatz von Konfliktsituationen und ein Ort für den Handel zwischen Menschen aus Aragon und Valencia; hier entstanden Kontakte mit den Franken, Okzitanern oder sogar den britischen Kolonien.
Kurz gesagt: Tortosa war ein nicht wenig komplizierter Knotenpunkt und dies scheint das richtige Stichwort zu sein für das neue Gebäude der Bezirksverwaltung von Estudio Carme Pinós. Die ersten Schritte des Projekts begannen bereits 2005, als das Büro den 1.Preis eines Wettbewerbs gewann. Nach mehreren Ausbesserungsarbeiten wurde die Bauabnahme erst 2019 unterschrieben.
Nun die spannende Frage: Was tut eine Architektin, die eigentlich die Weite des Raums benötigt, um sich (im wahrsten Sinne des Wortes) entfalten zu können, wenn sie auf einmal mit der Enge einer alten Stadt, ihrer dichten Bebauung und ihren schmalen Straßen und Gassen, konfrontiert wird? Die Frage ist berechtigt, denn Carme Pinós ist (wie bereits angedeutet) nicht besonders bekannt als Baulücken-Architektin. Steckt sie in Tortosa – nicht nur im übertragenen Sinne des Wortes – fest?
Das Szenario: Gegeben ist eine Parzelle von 2.450 m², althistorische und dichtgedrängte Gebäude umrahmen das Grundstück. Hier sieht es nicht gerade danach aus, dass man ein öffentliches Gebäude zum Atmen bringen kann und es fällt schwer, sich vorzustellen, dass man hier – ganz nebenbei – einen offenen Außenraum für Fußgänger bieten kann.
Und doch: Wo keine Landschaft ist, kann man sich zumindest darum bemühen, eine zu entwickeln. Die wichtigste Strategie bestand sicherlich darin, das Gebäude zur Gliederung der Grundfläche zu nutzen, um auf diese Weise drei Plätze anzudeuten. Fast könnte die Rede auch von vier Plätzen sein, aber die Übergänge im Außenraum sind naturgegeben fließend.
Besonders fließend gestaltet ist der Zugang für die Fußgänger, die über die Carrer Cabanes kommen. Mit Hilfe von baumbewachsenen Jardinieren (die übrigens noch an einigen weiteren Stellen des Geländes eingesetzt werden) werden sie fast sanft und behutsam hineingelenkt. Deren niedrig gehaltenen Ränder sind in einer kurvigen Form gehalten, die von ihrer Spannung her auch in den metallenen hohen „Beleuchtungskulpturen“ auftauchen. Vier in sich abgestufte Terrassen führen also von der Carrer Cabanes in das eigentliche Zentrum der Außenanlage, wo schließlich der Haupteingang zu finden ist. Gleichsam schneckenartig geschützt liegt er in einer Nische inmitten der Bauvolumen.
Aber natürlich kann man auch von der entgegengesetzten Seite herkommen: von der Carrer Montcada. Ein Schritt in Richtung Carrer del Benasquer und schon wird man allein durch die Form und Zuschnitte der Baukörper gelenkt oder fast hineingezogen. In dem Moment, in dem der Fußgänger um die Ecke biegt, ergibt sich ein ganz anderes Raumgefühl als beim nördlichen Zugang. Denn genau an dieser Stelle scheint sich der hier befindliche Bauabschnitt anzuheben, eigens um den Fußgängern Platz zu machen oder mehr Einblick zu gewähren. Kurz gesagt: Der Baukörper wird zum Wegweiser; benötigt wird kein Schild mit Pfeil und entsprechender Aufschrift. Hier weiß man, wo es langgeht. Mehr noch: Durch die Anhebung bietet das Gebäude an diesem Punkt einen geborgenen und schattigen Bereich, eine Art von Überstand, die sich wie organisch von allein ergibt und den Menschen die Möglichkeit bietet, sich an der Ecke – in diesem Fall in der Ecke – zu treffen und sich auszutauschen.
Diejenigen, die die Arbeiten von Estudio Carme Pinós kennen, fühlen sich bei dieser Geste des Abhebens und Auskragens erinnert an andere Projekte der Architektin. So etwa an Caixa Forum (Kulturzentrum in Zaragoza, 2008-2014). Auch hier wirkt das Gebäude, ausgerechnet dort, wo es auf den Boden trifft, wie angeschnitten. „Das ist genau die Zone, in der die Beziehung zwischen dem Gebäude und der Stadt entsteht“, betont Carme Pinós in einem Interview von 2016. Überhaupt ist sie eine Architektin, die auf die beziehungsstiftenden Qualitäten ihrer Bauwerke großen Wert legt. Allerdings kommt diese „Beziehung“ in Zaragoza, allein schon aufgrund der Größe des Projekts und des offenen Raums drumherum, eher zur Geltung und der Verdacht liegt nahe, dass mit dieser charakteristischen Geste des Aufstrebens und Hochragens etwas aus dem Leben der vorhergehenden Projekte in das öffentliche Gebäude in Tortosa eingehaucht werden sollte. Sicher ist, dass auch in Tortosa mit diesem gestalterischen „Kniff“ dem Gebäude ein Teil seiner Wuchtigkeit genommen werden sollte. Und doch, etwas Kompromisshaftes liegt in der Luft. Etwas an der angestrebten Ausstrahlung hinkt. Die Dimension des Gebäudes und ihre Proportionen, auch in Hinblick auf ihre Umgebung, verkraftet vielleicht keine allzu kraftvollen, fast dynamisch anmutenden, Formungen. Trotzdem: Es bleibt die Intention, die Carme Pinós in dem bereits erwähnten Interview betont, und die sicherlich projektübergreifend gültig ist: „Ich mag es“, sagt sie, „eine Art von Bewegtheit anzubieten, weil es das Gebäude leichter wirken und einen Dialog zwischen den Leuten und der Stadt finden lässt.“
Aber wie ist das Gebäude an sich aufgebaut und gestaltet? Zwei getrennte Bereiche lassen sich am Baukörper ablesen, die teils ineinander verschränkt, teils übereinandergelegt zu sein scheinen. Der eine liegt an der Carrer Montcada und ist orthogonal abgewinkelt, der andere grenzt an die Carrer Cabanes und ist irgendwo im mittleren Bereich wie zusammengedrückt, ähnlich einer Schleife oder Herrenfliege. In der Schnittstelle sind angeordnet der Haupteingang mit Windfang und eine Art von Nebenzugang. Massiv und solide, ja, aber auch wie zergliedert in mehrere ausgreifende Arme wirkt die Komposition der Volumen. Auch die Außenwände wollen sich nicht richtig einordnen lassen. Stehen sie an einer Stelle gerade, so neigen sie sich schon an der nächsten oder laufen dort wo sie zusammentreffen besonders schräg und spitz zu. Alles Symptome der Schmiegsam- und Schnittigkeit: Der Wunsch war möglicherweise, sich den Gebäuden der Nachbarschaft anzupassen, ohne sich anzugleichen. Die Ecken wurden differenziert, quasi um gerade nicht „anzuecken“. Hierzu passt auch die Beobachtung, wie geschickt sie eingesetzt werden; so wird bei diesem Gebäude, wie vorhin bereits angesprochen, die Ecke nicht nur zu einem geräumigen Treffpunkt umformuliert, sondern auch mit anderen Funktionen besetzt, wie z.B. im Nordwesten als Zugang zu einem Treppenhaus oder im Südwesten als Ein- und Ausfahrt der Parkebenen unterhalb des Gebäudes.
Apropos Differenzierung: Auffällig ist, mit welch schlichten Mitteln die Architektin auch das zurückhaltendste Farbkonzept zu nuancieren weiß. So hütet sie sich davor, den hellen Anstrich des Gebäudes sozusagen von Kopf bis Fuß durchzuzuziehen. Und sie begnügt sich auch nicht mit einem effektvollen Schwarz-Weiß-Kontrast (der Mauern und der Fenster). Stattdessen führt sie einen Grauton ein, den sie wie eine Bordüre über den gesamten Sockelbereich der Verwaltung laufen lässt – als sollte diese alles zusammenhalten. Und doch ist selbst dieser graue Band, das zudem aus einem anderen Material beschaffen ist als die restliche Fassadenoberfläche, selbst dieses Bindeglied also ist in sich nicht durchgehend gleich. Mal liegt es höher, mal niedriger und mal verläuft es ganz gerade, mal leicht geneigt.
Und damit stecken wir mitten drin: in der Fassadengestaltung. „Wir haben zwei Arten von Fassaden entwickelt, eine mit kleinen Öffnungen und die andere mit großen Fenstern. Die zweitere ist die Fassade der Arbeitsbereiche mit großen Räumen, die der Ruhe des Platzes zugewandt sind, während die erstere die Fassade der kleinen Büros ist.“ So heißt es in der Projektbeschreibung von Estudio Carme Pinós. Die Unterscheidung ist einfach: Die strangartig, aber trotzdem nicht streng angeordneten kleinen Fenster liegen an den Außenseiten; die großen Öffnungen, in Richtung des zentralen Platzes, liegen in voneinander versetzten Positionen (auch in der Höhe). Letzteren sind überwiegend Strukturen mit relativ massiven und dunkel gefärbten Lamellen vorgelagert. (Übrigens scheint sich die Fensterkomposition zu den Straßenseiten anzulehnen an die Fassadengestaltung des von Carme Pinós entworfenen Departmentgebäudes D4 der Wirtschaftsuniversität in Wien. Das dort entstandene hahnenfußartige Muster der schwarzen Fensterelemente vor weißem Hintergrund taucht in abgemilderter Form in Tortosa wieder auf.)
Auch ohne auf die Gestaltung der Innenräume einzugehen, zeigt sich anhand des Verwaltungsbaus in Tortosa: Selbst in der Zwickmühle ist Facettenreichtum möglich (und neben den räumlichen zwickenden Stellen gibt es bekanntermaßen noch die ökonomischen und manch andere). Eine dieser Möglichkeiten sei nochmals hervorgehoben, zumal sie im Projekt quasi durch eine architektonische Maßnahme tatsächlich „hervorgehoben“ wurde : die Ecke. Denn, so wurde weiter oben erörtert, die Ecke eines Gebäudes ist nicht nur eine Ecke, um die man notgedrungen und typischerweise herumzugehen hat. Eine Ecke ist mehr, wenn man es denn zulässt. Bis in die kleinste Einzelheit zeigt Carme Pinós, was man aus dem noch so unscheinbarsten Element herausholen kann.
Auch wenn das Ende eines Artikels nicht der richtige Ort ist für Details, auf eines sei dennoch abschließend hingewiesen: In der Carrer del Seminari, auf der westlichen Seite, befindet sich der letzte Außenraum zwischen dem Verwaltungsbau und den umgebenden Häusern, der bisher noch nicht besprochen wurde. Auch hier kommt wieder eine Jardiniere zum Einsatz, eine langgestreckte Form, gefüllt mit Erde und Grün und – nur auf einer Seite – einem etwa halben Meter hohen geschwungenen Rand. Dieser Betonbalken endet aber nicht dort, wo sein Zweck erfüllt ist, sondern geht, im wahrsten Sinne des Wortes, darüber hinaus. Ein Stück, ein Zipfel nur (man schaue in Pläne und Fotos und finde die Stelle, die leicht zu übersehen ist). Aber selbst das ist genug, um damit umso deutlicher zu machen, wozu dieser letzte Abschnitt der Jardiniere – scheinbar mehr noch als der Rest – konstruktiv genutzt werden könnte: zum Sitzen. Und, etwas dramatischer formuliert, zum Näherrücken, zum Austausch zwischen den Leuten, die etwa gerade das Bürgerbüro besucht hatten, zum Kontakteknüpfen zwischen den Bewohnern, die vielleicht ganz nebenbei anfangen, die Stadt und ihre Räume auf andere Art wahrzunehmen. Die Bezirksverwaltung von Tortosa soll kein nüchterner Ort für Formalitäten sein, sondern sie soll ein neuer Ort sein, um das entstehen zu lassen, worum es Carme Pinós von Anfang an und durchgehend ging: den Dialog. ♦
Zur Website von ESTUDIO CARME PINÓS