One Thousand Museum von Zaha Hadid
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ONE THOUSAND MUSEUM VON ZAHA HADID ÜBERRASCHT MIT GRAZILEM EXOSKELETT

Für Hadidsche Verhältnisse ist es in sich ruhend: Das One Thousand Museum. Der Wohnturm mit Luxuswohnungen steht am Meer von Miami und ist eines ihrer letzten realisierten Projekte. Die symmetrische Exoskelett-Fassade verbindet Technik mit nahezu kalligrafischer Ästhetik. Wie nie zuvor in ihrer Arbeit, lässt Zaha Hadid Architektur und Konstruktion zu einer Einheit verschmelzen. Die Fertigstellung der Werkpremiere hat sie leider nicht mehr miterlebt.

20. August 2020 | Özlem Özdemir

 

O

ne Thousand Museum steht in Miami, dort wo seine Erbauerin 2016 verstorben war, plötzlich und tragisch, wegen einer tödlich endenden Bronchitis. Zaha Hadid war eine irakisch-englische Architektin und Pulitzerpreisträgerin. Sie konnte nicht wissen, dass One Thousand Museum eines ihrer letzten realisierten Projekte sein würde. Was sie sicherlich wusste: Es würde eine Pionierarbeit sein, ein weiterer Fortschritt für ihr Gesamtwerk, noch ein Debüt nach jahrzehntelangem Schaffen.

Vorneweg ein Wort zum Projekttitel: „One Thousand“ geht zurück auf die Hausnummer – 1000 Biscayne Boulevard – und „Museum“ ist ein Wink auf den direkt gegenüberliegenden Museumspark der Stadt. Es handelt sich um einen 62-stöckigen Wohnturm. Seine Ostfassade steht genau parallel zur Küstenlinie und bietet freien Ausblick auf die Biscayne Bay und den Atlantischen Ozean. Das Hochhaus hat eine Höhe von etwas über 216 m, bietet Platz für 83 Wohnungen, darunter ein Penthouse. Die oberen Stockwerke bergen ein Aqua-Center, eine Lounge und Veranstaltungsräume. Über der Lobby und dem Anwohnerparkplatz befinden sich Landschaftsgärten, Terrassen und Pools. Im Juli 2020 erhielt das Luxusobjekt seine Nutzungbewilligung.

Versteht man Luxus vor allem als Ausdruck von fehlendem Verständnis für Standard oder Norm, so passt er perfekt zu Zaha Hadid. Sie bezeichnete sich selbst als von jeher exzentrisch1. An der AA School in London, wo sie in den 70er Jahren Architektur studiert hatte, kam ihr revolutionärer Geist zum Durchbruch. Einer ihrer Lehrer, Ilias Zenghelis, sagte über sie: „We called her the inventor of the 89 degrees. Nothing was ever at 90 degrees.”2 Kein Wunder also, dass sich später kaum jemand traute, ihre Projekte zu verwirklichen. Aber auf dem Campus des Vitra Design Museums in Deutschland hatte Zaha Hadid 1993 endlich ihren großen Auftritt. Ihr spitzig-schräges, ausladendes Feuerwehrhaus galt als Sensation. Aber das Areal in Weil am Rhein war auch groß genug. Es war ein idealer Hintergrund für eine Etüde, eine Kür. Das Hochhause-Ensemble in Miami hingegen bekommt keinen „Spielplatz“ geboten und der Star aus London hat keine Bühne.

Zaha Hadid Wohnturm
Courtesy of Zaha Hadid Architects // Photo © Hufton+Crow

 

Stattdessen zeigt sich One Thousand Museum in einer Gruppe. Es gehört zu insgesamt fünf Hochhäusern, die an den Ufern von Florida stehen: Schulter an Schulter. Einziger Sonderstatus: Zaha Hadid’s Bau steht quasi im Mittelpunkt. Andererseits stehen Exzentriker naturgemäß lieber außerhalb der Mitte. Ein weiteres Kuriosum: Zaha Hadid steht scheinbar still. Der Baukörper tanzt nicht aus der Reihe. Er windet sich nicht einmal, so wie die Architektin es 2006 noch getan hatte beim Entwurf für Signature Tower. Und dabei wäre es One Thousand Museum nicht übel zu nehmen: Die Nachbarbauten stehen so dicht dran, als würde es sich hier um eine Reihenhaussiedlung handeln. Kein Zweifel, die typisch hadidsche Expressivität muss hier einen anderen Weg finden, einen mit weniger Dimensionen. Folgerichtig kanalisiert sich alles in der Hülle: Der Drang nach Plastizität, die Forderung danach, in den Raum auszugreifen, muss sich auf die Außenschicht beschränken.

Diese Fassade ist aber keineswegs nur eine „oberflächliche“ Angelegenheit. Denn die verzweigte Außenstruktur bekommt bei diesem Entwurf eine tragende Rolle. Und das tut sie, wie sich noch zeigen wird, im wahrsten Sinne des Wortes. Doch zunächst zu ihrer Ästhetik, d. h. ihrer Formung, Aufteilung und ihren Proportionen. Beginnen wir mit dem zentralen Knotenpunkt in der 34. Ebene. Dieser ist quasi der Bauchnabel des gesamten Baukörpers, wenn nicht der gesamten Bebauungsreihe. Links und rechts von ihm spreizen sich zwei schmetterlingsartige Fächer ab und setzen damit den symmetrischen Grundton des Entwurfs. Darüberliegend läuft die Gestaltung in eine einzige Fläche aus, die nicht weiter unterteilt ist. (Wir werden nicht weiter auf die horizontalen Linien der Stockwerke eingehen. Sie variieren in ihrer Dichte, denn die Raumhöhen sind nicht überall gleich. Die teils glatt durchgehenden, teils geknickten Fensterbänder lassen die zweigartige Betonstruktur atmen und sich abheben.) Nur noch in ihren Eckbereichen bekommt der obere Fassadenbereich eine Betonung mithilfe von Aufsplittungen, die an Pinzetten erinnern oder ein wenig auch an Stimmgabeln. In der unteren Hälfte sind die Ecken wiederum wie aufgebläht und geben dadurch Raum für großzügige Terrassen. Zurück zur zentralen Kreuzungsstelle: Dieser Punkt ist so platziert, dass er knapp über dem Mittelpunkt der Gebäudehöhe liegt. Dies ist bemerkenswert, denn der optische Eindruck ist eher so, dass diese Stelle gen Boden zu tendieren scheint. Das gibt der Architektur etwas verblüffend Gesetztes. In den alleruntersten Ebenen erfährt die Fassade sogar eine Art von Stauchung. Die „Sehnen“ werden hier gedrückt. Die so entstehenden zwei Öffnungen werden mit sanft gekrümmten Lamellen gefüllt und wecken den Eindruck von Kiemenpaaren, Krallen, Riesenwurzeln. In diesem Bau wimmelt es von Assoziationen, besonders von organischen. Nicht zuletzt könnte man an eine Kletterpflanze denken, die gen Himmel strebt. Die Palmen vor der Haustür, mit ihren hängenden Wedeln, sprechen eine ähnliche Sprache wie die gebogenen Fassadenelemente.

One Thousand Museum mit Palmen
Courtesy of Zaha Hadid Architects // Photo © Hufton+Crow
Zaha Hadid One Thousand Museum Fassadenausschnitt
Courtesy of Zaha Hadid Architects // Photo © Hufton+Crow
One Thousand Museum Sockelbereich
Courtesy of Zaha Hadid Architects // Photo © Hufton+Crow

 

Es wäre interessant Hadids Wohnbau neben Antoni Gaudís Casa Batlló zu stellen und beide miteinander  zu vergleichen. Gaudí, ein großer Naturbeobachter, experimentierte an gebauten Modellen und ließ seine Erkenntnisse in seine oftmals amorphen Werke einfließen. Zum eigentlichen Wegweiser für Zaha Hadid kommen wir noch. Doch was die technischen Auslotungen betrifft, ging sie in ihrer Haltung ähnlich dem katalanischen Architekten vor – zumindest bei diesem Projekt. Denn die gestalterischen Entscheidungen  – wo genau etwa die Verzweigungen stattfinden, wie schmal oder wie breit sie ausgeprägt sein müssen, wie sie geformt werden können – all das geht zurück auf statische Erfordernisse.

Kurzum: Zaha Hadid wollte, dass diese Fassadenelemente mehr sind als nur Dekor. Vorschläge von Bauunternehmern, die geschwungenen Betonelemente auf konventionelle Weise herzustellen, lehnte sie ab. Stattdessen fiel die Wahl auf ein Exoskelett. Bei diesem Konstruktionsprinzip liegen die tragenden Stützen außerhalb der Gebäudestruktur. Auf diese Weise maximiert sich die Nutzfläche innerhalb des Gebäudes. Das Exoskelett nimmt sowohl Gravitations- als auch Seitenlasten auf (in diesem Fall inklusive die Windlast eines Hurrikans). Seine Position an der Außenseite des Gebäudes, seine Gestaltung mit Diagonalen und deren Schnittstellen sorgt zudem für ein hohes Maß an Gesamtsteifigkeit. Der Effekt für One Thousand Museum: Die Stützenreihen zwischen der Mitte der Grundrissplatte und den Außenwänden fallen nahezu weg. Außerdem reduziert sich die Dicke des zentralen Gebäudekerns.

Wohnturm in Miami von Zaha Hadid mit Geschoss-Isometrie
Courtesy of Zaha Hadid Architects
One Thousand Museum Zeichnung Ostfassade
One Thousand Museum – Ostfassade // Courtesy of Zaha Hadid Architects

 

Zum Baumaterial: Herkömmlicher Ortbeton erwies sich für das Exoskelett als zu teuer. Zaha Hadid, die das skulpturale Potenzial von Beton liebt, griff zurück auf frühere Projekte. Das Phaeno Science Center in Wolfsburg war mit neuartigen Schalungsprinzipien entstanden (um seine geometrisch komplexen Bereiche zu bewältigen). Das Pierresvives Archiv in Montpellier bot Gelegenheit, Präzisionsfertigteile zu verfeinern. Und der Entwurf für den Businesspark Stone Towers in Kairo lehrte sie mehr über die permanente Schalungslösung und glasfaserverstärkten Beton (zu Englisch GFRC). Diese fortwährende Arbeit an innovativen Bautechniken gipfelte nun in der weltweit ersten permanenten GFRC-Schalung für das One Thousand Museum. GFRC  ist ein Betontyp, der extrem starke Glasfasern enthält. Im Vergleich zu Stahl- und Stahlfaserbewehrungen haben Glasfaserverstärkungen den Vorteil, dass sie nicht korrodieren. Daher fällt die Betonüberdeckung deutlich geringer aus, was zu schlankeren Bauteilen und niedrigerem Materialverbrauch führt. Für One Thousand Museum wurden etwa 4.800 GFRC-Stücke in Dubai hergestellt und dann nach Miami verschifft. Nach dem Zusammenbau der Schalungsabschnitte vor Ort wurden die Bewehrungsstäbe eingelegt. Anschließend erfolgte das Eingießen von selbstverdichtendem Beton in die Schalung und das Exoskelett war komplett. Das Besondere an dieser Methode: Da es sich um eine permanente Schalung handelt, werden ihre Elemente aus GFRC nicht entfernt, sondern sie werden zum Bestandteil der Gebäudestruktur.

Zwischenbilanz: Zaha Hadid sah das Thema der Materialien und der fortgeschrittenen Technologien (zu denen übrigens auch die digitalen Zeichen – und Darstellungstechniken gehören) stets als unverzichtbare Mittel für freie Formen. Fasziniert war sie aber auch an mathematischen Fragen. Und diese wiederum hingen für Sie eng mit ästhetischen Themen zusammen.

Noch vor ihrem Architekturstudium an der Londoner AA School hatte Zaha Hadid Mathematik in Beirut studiert. Dort machte sie eine einschlagende Entdeckung: „I realised there was a connection with the logic of maths to architecture and the abstraction of Arabic Calligraphy scripts”, sagt sie in einem ihrer letzten Interviews3 und erinnert an einen Künstler der Russischen Avantgarde, der sie zutiefst inspiriert hatte:  “I’m absolutely sure the Russians – Malevich, in particular – looked at those scripts. Studying his work allowed me to develop abstraction as a principle to explore and invent space.” Ihre Abschlussarbeit in London, Malevitch’s Tectonik von 1976/77, gleicht prompt einem Gemälde, das sich an einer Skulptur des Künstlers orientiert (Architekton Alpha, 1920)4. In diesem letzten Studienprojekt gibt es noch parallele und orthogonale Linien (so wie in der Quader-Komposition von Malewitsch). Doch mit der Zeit ließ Zaha Hadid die geometrischen Grundformen noch weiter aufbrechen. Und schließlich wurde aus dem Fragmentierten das Gleitende und Fließende. Die weichen kurvigen Schriftarten der arabischen Kalligrafie schwingen im Spätwerk von Zaha Hadid immer mehr mit. In Miami überschneidet sich diese kulturbasierte Ästhetik mit der Technik von heute.

One Thousand Museum ist Zaha Hadids erstes Hochhaus-Projekt in den USA. Und es ist eines der Letzten ihrer Projekte, die sie zu Lebzeiten begonnen hatte. Was steckt hier noch von den explosiven, expandierenden weltall-artigen Visionen, mit denen die Ausnahmearchitektin (Frau, Ausländerin, Muslimin) auf die Bühne der Stararchitekten geplatzt war? Die Frage ist berechtigt, denn für Zaha Hadid ist dieser Baukörper erstaunlich ruhig. Seine äußere Erscheinung ist relativ zurückhaltend, fast bescheiden – gleichwohl das in Anbetracht der Immobilienpreise höhnisch klingt. (Die Apartment-Preise beginnen ungefähr bei 5 Millionen USD; die höchsten übersteigen 20 Millionen.) Auch im Innern gab dieser Bauauftrag nicht viel Gelegenheit für räumliche Experimente oder ein plastisches Gesamtkonzept. Hier und da nur gibt es „Akzente“ wie beim Halbgewölbe des Aquazentrums. Sein Relief spiegelt gleichsam das Kräuseln von Wasser wieder.

Zaha Hadid Aquacenter in Miami
Courtesy of Zaha Hadid Architects // Photo © Hufton+Crow
Zaha Hadid Aquacenter in Miami mit Gewölbenrelief
Courtesy of Zaha Hadid Architects // Photo © Hufton+Crow
One Thousand Museum an der Küste von Miami
Courtesy of Zaha Hadid Architects // Photo © Hufton+Crow

 

Auch wenn das Projekt quasi den Nachnamen „Museum“ trägt: Man sucht vergebens nach überraschenden Raumabenteuern. One Thousand Museum reiht sich nicht ein in die Galerie von Zaha Hadids Architekturikonen, so wie die Feuerwache Vitra, die Skischanze Bergisel, das Museum MAXXI. Es ist vielmehr eine neue Station ihrer ständigen professionellen Bemühungen, Technik für skulpturale Belange zu verwerten. Sie erforschte hier die Möglichkeit, eine ausdrucksvolle Fassadengestalt zu realisieren, die nicht aufgesetzt ist, sondern aus statisch-konstruktiven Prinzipien erwächst.

Mit diesem Turmdesign, seiner skulpturalen und haltgebenden Hülle, seinem erstaunlich zarten Exoskelett, hat sie ein bedeutendes Ziel erreicht oder kommt ihm zumindest sehr nah: der Verschmelzung von Struktur und Architektur. Ihr Projekt zu Füßen des Atlantischen Ozeans ist eine Premiere zum ungewollten Schluss einer beachtlichen Laufbahn, ein weiterer Schritt in Richtung neuer Horizonte.

Nachdem eingangs die Bedeutung des Projektnamens entschlüsselt wurde, soll dieser Beitrag mit dem Namen von Zaha Hadid ausklingen. Der lateinische Anfangsbuchstabe Z passte zu ihr. Er hat Dynamik. Das deutsche Wort Zickzack hätte sie vielleicht amüsiert. Auch Zorro kommt einem in den Sinn. Aber anders als die Romanfigur war sie wohl keine Rächerin, zumindest nicht für die Armen. Sehr wohl war sie eine Vorreiterin und das im großen Stil. So wie Zorro seine Handschrift mit der Spitze seines Schwerts hinterließ, verkündete sie mit ihren zeichenhaften Bauten und, vor allem, mit One Thousand Museum: Ich war hier. ♦

Zaha Hadid Wohnturm in Miami im Abendlicht
Courtesy of Zaha Hadid Architects // Photo © Hufton+Crow

 

 

 

¹ https://www.theguardian.com/artanddesign/2003/feb/02/architecture.artsfeatures/; letzter Zugriff 18.8.2020

² https://en.wikipedia.org/wiki/Zaha_Hadid; letzter Zugriff 18.8.2020

³ https://www.dailyo.in/arts/zaha-hadid-artchitecture-public-spaces-pritzker-architectural-prize-design-calligraphy/story/1/9832.html/; letzter Zugriff 18.8.2020

4 Für Informationen über die Bedeutung von Malewitsch, das Thema der Abstraktion und des Architektons u.v.m. siehe:  https://player.vimeo.com/video/106495767  (Dieser BBC-Film wird präsentiert von Zaha Hadid.); letzter Zugriff 18.8.2020

 

 

Zaha Hadid Portrait
Courtesy of Zaha Hadid Architects // Photo by Brigitte Lacombe

 

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