Ab 2020 ist Potsdam Mitte eine Baustelle. So kündigt es die Hauptstadt des Landes Brandenburg zusammen mit dem Sanierungsträger Potsdam GmbH in einem von ihnen herausgegebenen Flyer an¹. Der Bauablauf sieht hiernach ab 2022 das Kreativquartier Potsdam Mitte vor. Bisher im ehemaligen Rechenzentrum untergebracht, erhält es nun nach dem Masterplan des niederländischen Büros MVRDV einen eigenen Distrikt mit Village-Charme. All das allerdings gleich nebenan des geplanten Wiederaufbaus der Garnisonkirche.
16. Februar 2020 | Özlem Özdemir
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ast drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung gehört Potsdam zu den beliebtesten deutschen Metropolen. Auch für Kultur- und Kreativschaffende ist sie ein attraktiver Ort. Aber der Effekt ist bekannt: Je mehr Menschen angelockt werden, desto größer die Verknappung und Verteuerung des innerstädtischen Raums. Die Gegenmaßnahme: Das ehemalige Rechenzentrum aus DDR-Zeiten wurde in ein „Kunsthaus“ verwandelt. Noch 2017 war der fünfstöckige Quaderbau an der Ecke Breitestraße / Dortusstraße an mindestens 150 kreative Nutzer vermietet². Dieser Zustand ist aber befristet bis 2023. Dann soll das Verwaltungsgebäude des alten Rechenzentrums abgerissen werden. Der Grund: Baufreiheit für die umstrittene Rekonstruktion der Garnisonkirche. (Die Garnisonkirche wurde für das preußische Militär errichtet; hier war es, wo am „Tag von Potsdam“ der Handschlag zwischen Hindenburg und Hitler stattfand.)
Alles ging recht schnell: 2017/2018 begann man über einen Ersatz nachzudenken und eröffnete ein Szenario-Workshop für ein neues Mischquartier. Der zugewiesene Standort war gleich nebenan vom Rechenzentrum, d.h. im Areal an der Alten Feuerwache. So entstand das Zielszenario mit dem Namen: KREATIV QUARTIER³. „Wirtschaftlich unabhängig“ und „nachhaltig“ und „professionell, erwerbsorientiert“: Dieses Trio von Attributen wünscht sich der Sanierungsträger Potsdam – und von daher rührt vielleicht auch die hochgestellte Drei³. Ende 2019 erfolgte dann das Konzeptverfahren. Aus dem Wettbewerb gingen der Projektentwickler Glockenweiß (Berlin) und das Büro für Architektur und Städtebau MVRDV (Rotterdam) als Gewinner hervor. Und um mit den Hintergründen abzuschließen: Abgehängt wurden Büros wie Heide & von Beckerath, FAR Frohn & Rojas und Atelier Le Balto und der Bauträger Mila.
Was verspricht nun der Masterplan von MVRDV? Village-Inspired – „dorfinspiriert“. So lautet die Umschreibung des Konzepts. Erster nahe liegender Gedanke: Wir brechen den Vorgängerbau, den strengen geschlossenen Block des ehemaligen Rechenzentrums, auf und errichten stattdessen einzelne, voneinander getrennte Bauten. So wird der Innenhof, der ursprünglich als leerer Platz vorgesehen war, zu einer differenzierten Außenzone, die zu persönlicheren Kontakten einlädt.
Laut MVRDV stellt dieser Entwurf 24.400 qm Nutzfläche zur Verfügung (bei einem Grundstück von 11.235 qm). Darin enthalten sei eine bezahlbare Mietfläche von 6.950 qm, womit die kleinteilige Kultur- und Kreativwirtschaft weit mehr Raum erhielte als ursprünglich erwartet. (Die Anfangsmiete wird mit „9 € netto kalt“ beziffert4.)
Als Begrenzung bezieht der Masterplan kunsthistorisch bedingte Grenzen ein, wie etwa im Norden das Brockessche Palais. Daneben sieht er zwei umlaufende Gebäude an den Rändern des Stadtblocks vor – gemeint ist damit u. a. die noch zu entstehende Grünzone Plantage. Somit wurde der Wettbewerbsjury folgendes Bauensemble vorgestellt5 – und man beachte das zum Teil village-belastete Vokabular: „Langer Stall“ und „Rack“ mit einer Nutzfläche von 9602 qm (Bauphase 1), „Blocks“, „Cottage“, „Tribüne“ und „Shed“ mit einer Nutzfläche von 6948 qm (Bauphase 2) und schließlich „Townhouse“ mit einer Nutzfläche von 3616 qm (Bauphase 3). Charakteristisch hierbei: Die eher lang gestreckten Bauten der ersten und letzten Bauphase bilden gleichsam eine Festung oder einen Wall für die im Innern liegenden kleinteiligen Gebäude.
Die bisher nur angedeuteten Bauvolumen des Kreativquartier Potsdam Mitte zeigen: Ihre unterschiedlichen Größen und Höhen und Ausformungen erlauben architektonische und räumliche Vielfalt, die auch an die vielfältigen Berufe erinnern, an die dieses „Dorf“ adressiert ist (oder sein sollte). Um nur einige mögliche Kandidaten aufzulisten: Design, Film, Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Theater, Kulturelle Bildung, Software, Integration u. v. m. Und außerdem sollen hier die Schaffenden aus den unterschiedlichsten Bereichen nicht nur arbeiten, sondern auch einander näher gebracht werden: Mithilfe von Gassen, Höfen, Plätzen und begrünten Dächern erleben sie diverse Angebote der Interaktion.
Neben den sozialen und kommunikativen Eigenschaften beinhaltet der Masterplan ein umfassendes Nachhaltigkeitskonzept. Hierin spielt die Integration von öffentlichen und privaten Grünflächen, die Verwendung von wiederverwertbaren Materialien, die Integration von Elementen zur nachhaltigen Energieerzeugung und ein neues und anpassungsfähiges Mobilitätskonzept eine wichtige Rolle. So könnte etwa mit Elektro-Carsharing der Bedarf an privatem Autobesitz bei den Mietern dieses Gebietes reduziert werden.
Zum Raumprogramm nur so viel: MVRDV hat über die ursprünglichen Anforderungen des Auftrags hinaus zusätzliche Funktionen wie Gastronomie, Kindergarten, Konferenz- und Ausstellungsflächen einbezogen und gibt damit dem „Village“ freilich einen Flair von „City“ oder um im Berliner Milieu zu bleiben: „Kiez“.
Lebendigkeit und kraftvolle Gesten sind Kernaspekte bei den Arbeiten von MVRDV. Auch beim Kreativquartier Potsdam Mitte gibt es die ersten Anzeichen dafür – trotz der gebotenen Abstraktheit des Masterplans. Da steht, um nur ein Beispiel zu nennen, mitten im Herzen des Entwurfs ein treppenartiges Gebäude – ein Motiv, das bereits 2009 seinen im wahrsten Sinne des Wortes großen und knalligen Auftritt hatte im Werk von MVRDV. (Damals implantierte das Büro fast eine ganze Inka-Pyramide in oranger Farbe, genannt „Tribune“, in einen abgedeckten ehemaligen Innenhof der Technischen Universität von Delft.)
MVRDV arbeitet aber auch gerne mit dem Genius Loci. In ihrem Vorschlag für Potsdam fallen einem gleich zwei Fälle auf. Da sind zum einen die fünf aneinander gereihten Häuser mit Satteldächern – eine mögliche Referenz an das Holländische Viertel? Und MVRDV hatte es erst vor Kurzem in München wieder unter Beweis gestellt: Seine Lust und Neugier an dem, was der gegebene Standort an auffälligen – und weniger auffälligen – Spuren seiner Geschichte zu bieten hat. Die Rede ist von Werk12. Das im Mai 2019 eröffnete Gebäude weist in seiner Fassade leuchtfähige und weithin sichtbare Buchstaben auf. Die Idee dazu kam nicht von ungefähr: Sie stammte vom früheren umfunktionierten Industrie-Gelände, mit all seinen großen jahrmarktartigen Beschriftungen und Graffitis.
Ähnliches Phänomen in Potsdam: Nimmt man die farbenfrohen und heiter anmutenden Konzeptdarstellungen von MVRDV genauer unter die Lupe, macht man eine interessante Entdeckung. Hier und da, an den bewusst nicht ausgefeilten Gebäuden und Fassaden, tauchen einige merkwürdige Details auf: dunkle quadratische Flächen. Die Überraschung ist perfekt: Es handelt sich dabei um Fassadenabschnitte des ehemaligen Rechenzentrums. Der Künstler Fritz Eisel hatte dieses 18-teilige Mosaik in den 70 iger Jahren hergestellt. Die Darstellung des sowjetischen Kosmonauten Gagarin ist denkmalgeschützt und stellt damit eigentlich einen Hinderungsgrund für einen Abriss dar. Somit wirken die Mosaikflächen, die MVRDV in ihrer Präsentation einbezieht, wie eine Art von Hommage und gleichzeitig wie ein gewitzter Wink. Schließlich heißt Eisels Werk „Der Mensch bezwingt den Kosmos“. Und was ist der Denkmalschutz schon im Vergleich zum Kosmos?
Übrigens zeigt MVRDV in seinen oben genannten Darstellungen auch den letzten Teil des Mosaikbandes, der – wenn auch kaum lesbar und nur angeschnitten – ein Zitat von Karl Marx wieder gibt: „Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf um Weizen, Vieh, etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu anderer Produktion, materieller oder geistiger.“
Die geistige Produktion für Kreativquartier Potsdam Mitte geht weiter. Denn nach dem Masterplan steht nun ein eigener Wettbewerb für die Architektur an. Baubeginn soll je nach Quelle 2022 oder sogar schon 2021 sein. Viel mehr Zeit bleibt also nicht – erst recht nicht à la Marx. ♦
¹ Siehe: https://www.potsdam.de/sites/default/files/documents/potsdamer-mitte-2020_de_web.pdf; letzter Zugriff 13.02.2020
2 Siehe: https://www.maz-online.de/Lokales/Potsdam/Kunsthaus-Rechenzentrum-fordert-Moratorium; letzter Zugriff 13.02.2020
3 Siehe: Sanierungsträger Potsdam: http://www.potsdamermitte.de/index.php?id=177; letzter Zugriff 13.02.2020
4 Siehe: https://cityreport.pnr24-online.de/sanierungstraeger-potsdam-bauherr-fuer-das-kreativquartier-in-der-potsdamer-mitte-gefunden/; letzter Zugriff 16.02.2020
5 Siehe: https://www.maz-online.de/Lokales/Potsdam/Potsdams-neues-Kreativquartier-wird-vom-Berliner-Buero-Glockenweiss-entwickelt; letzter Zugriff 13.02.2020
Zur Website von MVRDV
Between serene and sensitive: MVRDV designs master plan for Creative Quarter Potsdam Mitte
From 2020 Potsdam Mitte will be a construction site. This is what the capital of the state of Brandenburg and the redevelopment agency Potsdam GmbH are announcing in a flyer they have published together1. According to this, the construction schedule envisages the Creative Quarter Potsdam Mitte from 2022. Previously housed in the former Rechenzentrum, it will now receive a district of its own with village-charm based on the master plan of the Dutch practice MVRDV. All this, however, right next door to the planned reconstruction of the Garrison Church.
Almost three decades after reunification, Potsdam is one of the most popular German cities. It is also an attractive place for cultural and creative people. But the effect is well known: The more people are drawn to the city, the greater the scarcity and increase in price of inner-city space. The countermeasure was to turn the former Rechenzentrum from GDR times into a kind of arthouse. In 2017, the five-story rectangular building on the corner of Breitestraße and Dortusstraße was still rented to at least 150 creative users2. However, this condition expires in 2023, when the administration building of the old computer centre will be torn down. The reason for this was to free up space for the controversial reconstruction of the Garrison Church. (The Garrison Church was built for the Prussian military; it was here that the handshake between Hindenburg and Hitler took place on the „Day of Potsdam“.)
Everything went pretty quickly: In 2017/2018, they started thinking about a replacement and launched a scenario workshop for a new mixed quarter. The assigned location was right next door to the Rechenzentrum, in the area by the old fire station. This is how the target scenario with the name came about: CREATIVE QUARTER³. „Economically independent“ and „sustainable“ and „professional, acquisitive“ – this is the trio of attributes that the redevelopment agency Potsdam would like to see – and this is perhaps where the superscript three comes from3. Then, at the end of 2019, the concept phase followed. The project developer Glockenweiß (Berlin) and the architecture and urbanism practice MVRDV (Rotterdam) emerged as winners of the competition. And to conclude with the backgrounds: Offices such as Heide & von Beckerath, FAR Frohn & Rojas and Atelier Le Balto and the property developer Mila were dropped.
So what does MVRDV’s master plan promise? Village-Inspired. This is the description of the concept. The first obvious idea: We break up the previous building (that strictly closed block of the former Rechenzentrum) and instead of that, we erect individual, separate buildings. Thus, the inner courtyard, which was originally meant to be an open space, becomes a differentiated outer zone that encourages more personal contact.
According to MVRDV, this design provides 24,400 sqm of usable space (with a plot area of 11,235 sqm). Included therein would be an affordable rental space of 6,950 sqm, which would give the small-scale cultural and creative industries far more space than originally expected. (The initial rent is estimated at „9 € net cold“4.)
The master plan incorporates “art-historical constraints”, such as the Brockessche Palais in the north, as a boundary. Furthermore, it provides for two circumferential buildings on the edges of the city block – this includes the green zone „Plantage“ that is still to be created. Thus, the following building ensemble was presented to the competition jury5 – and note the partly village-laden vocabulary: “Langer Stall” (Long Stable) and „Rack“ with a usable area of 9602 sqm (construction phase 1), „Blocks“, „Cottage“, „Tribune“ and „Shed“ with a usable area of 6948 sqm (construction phase 2) and finally „Townhouse“ with a usable area of 3616 sqm (construction phase 3). What is characteristic here is that the rather elongated buildings of the first and last construction phase form a fortress or rampart for the fragmented buildings inside.
The building volumes of the Creative Quarter Potsdam Mitte, which are currently only in a suggested form, illustrate this: Their different sizes and heights and shapes allow for architectural and spatial diversity, which is also reminiscent of the diverse professions to which this „village“ is (or should be) addressed. To list just a few possible candidates: design, film, visual arts, performing arts, theatre, cultural education, software, integration and many more. Also, the aim is not only to bring together creative people from different fields, but also to bring them closer to each other: With the help of alleys, courtyards, squares and green roofs, they experience various offers of interaction.
Besides the social and communicative characteristics, the master plan includes a comprehensive sustainability concept. In this concept, the integration of public and private green spaces, the use of recyclable materials, the inclusion of elements for sustainable energy production and a new and adaptable mobility concept play an important role. For example, electric car-sharing could reduce the need for private car ownership among the tenants of this area.
As far as the spatial programme is concerned, MVRDV has included additional functions beyond the original requirements of the contract, such as catering, kindergarten, conference and exhibition areas, thus giving the „Village“ a flair of „City“ or, to stay in the Berlin milieu: „Kiez“.
Liveliness and powerful gestures are core aspects of MVRDV’s work. The first signs of this can be seen in the Creative Quarter Potsdam Mitte as well – despite the due abstraction of the master plan. There is, to name just one example, a stair-like building right at the heart of the design – a motif which has already had its literally big and flashy appearance in 2009 in the work of MVRDV. (At that time the office implanted almost an entire Inca pyramid in orange, called „Tribune“, into a covered former inner courtyard of the Technical University of Delft).
However, MVRDV also likes to work with the Genius Loci. In their proposal for Potsdam, two things stand out at once. On the one hand, there are the five houses with gable roofs lined up next to each other – a possible reference to the Dutch Quarter? And MVRDV had only recently demonstrated this again in Munich: Its pleasure and curiosity about what the given location has to offer in terms of striking – and less striking – traces of its history. We are talking about Werk12. The building, which was opened in May 2019, has luminous letters on its façade, visible from far away. The idea for this did not come about by chance: It originated from the former converted industrial site, with all its large fairground-like lettering and graffiti.
Similar phenomenon in Potsdam: If you take a closer look at the colourful and cheerful concept presentations of MVRDV, you will make an interesting discovery. Here and there, on buildings and facades that were deliberately not elaborated, some strange details appear: dark square surfaces. What a perfect surprise: These are sections of the facade of the former Rechenzentrum. The artist Fritz Eisel had made this 18-piece mosaic in the 70s. The depiction of the Soviet cosmonaut Gagarin is listed as a historical preservation and thus actually constitutes an obstacle to demolition. Therefore, the mosaic surfaces, which MVRDV includes in its presentation, seem like a kind of homage and at the same time like a cunning hint. After all, Eisel’s work is called „Der Mensch bezwingt den Kosmos“ („Man Conquers the Cosmos“). And what is historic preservation compared to the cosmos?
By the way, in the above-mentioned depictions MVRDV also shows the last part of the mosaic volume, which – although hardly legible and only in part – reproduces a quote by Karl Marx: „Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf um Weizen, Vieh, etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu anderer Produktion, materieller oder geistiger.“ (“The less time society requires for the production of wheat, livestock, etc., the more time it gains for other production, material or spiritual.”)
The intellectual production for the Creative Quarter Potsdam Mitte continues: After the master plan, a separate competition for the architecture is now pending. Depending on the source, construction is to begin in 2022 or as early as 2021. Thus there is not much more time left – even less so à la Marx.
TRANSLATION BY ÖZLEM ÖZDEMIR
1 See: https://www.potsdam.de/sites/default/files/documents/potsdamer-mitte-2020_de_web.pdf; last access date 13.02.2020
2 See: https://www.maz-online.de/Lokales/Potsdam/Kunsthaus-Rechenzentrum-fordert-Moratorium; last access date 13.02.2020
3 Siehe: Sanierungsträger Potsdam: http://www.potsdamermitte.de/index.php?id=177; last access date 13.02.2020
4 See: https://cityreport.pnr24-online.de/sanierungstraeger-potsdam-bauherr-fuer-das-kreativquartier-in-der-potsdamer-mitte-gefunden/; last access date 16.02.2020
5 See: https://www.maz-online.de/Lokales/Potsdam/Potsdams-neues-Kreativquartier-wird-vom-Berliner-Buero-Glockenweiss-entwickelt; last access date 13.02.2020