Andrea Zittel, ewige Grenzgängerin zwischen Architektur, Design und Kunst, nimmt „Lebensgestaltung“ beim Wort und macht sie zum Œuvre. Teil dieses konstruktiven Kosmos sind auch ihre grafischen Arbeiten. Die Berliner Galerie Sprüth Magers zeigt vom 27. 11. 2020 bis zum 13. 2. 2021 eine Auswahl.
24. Januar 2021 | Özlem Özdemir
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ndrea Zittel ist eine kalifornische Bildhauerin und Installationskünstlerin. So wie sich die amerikanische Malerin Georgia O‘Keefe von der Wüste angezogen fühlte, lebt auch sie seit 1999 in der Mojave-Wüste bei Joshua Tree. Hier praktiziert sie das, was sie Experiments in Living nennt. Auf zittel.org gibt sie es von vorneweg bekannt: Ihr Unternehmen heißt A-Z und ist, wie die Bezeichnung (neben der Bedeutung ihrer Initialen) erahnen lässt, allumfassend. Ihre Arbeit behandelt sämtliche Aspekte des alltäglichen Lebens. Wohnmöbel, Kleidung, Lebensmittel sind nur grobe Kategorien. Sie baut Kabinen in weite Landschaften, erschafft installationsgleiche Mobiliarstrukturen, webt und vernäht Stoffe und baut Gemüse in Metalltonnen an. Andrea Zittel sieht Gebrauchsgegenstände als Untersuchungsobjekte. Mit ihnen versucht sie die menschliche Natur und die „soziale Konstruktion von Bedürfnissen“ besser zu erkunden. Sie gehört zu den schöpferischen Menschen, die Leben und Werk in einem künstlerischen Forschungsprojekt zusammenbringen. Andrea Zittel steht für eine investigative Lebenskunst.
Aus dem expansiven Schaffensspektrum der Künstlerin wählt die Galerie Sprüth Magers eine besondere Nische aus: grafische Darstellungen. Sie zeugen von einer abstrakten Arbeitsweise, die die lebensnahen konkreten Projekte begleiten. Das klar erkennbare Thema der 26 neuen Arbeiten auf Papier ist: Struktur.
Die Kompositionen von Andrea Zittel bestehen aus vertikalen und horizontalen Linien und rechteckigen, z. T. farblich angelegten Flächen. Ein Teil der präsentierten Bilder gehört zur Reihe Vast and Specific (2020), die ebene Formen darstellen und sowohl an grafische Elemente wie Beschilderungen im öffentlichen Raum als auch an Druckdesign erinnern. Sie sind in gemalte Wasserfarb-Landschaften gesetzt: eine deutliche Referenz zur Weite der Wüstenregion Joshua Tree, dem persönlichen Lebensumfeld der Künstlerin.
Ein anderer Teil der ausgestellten Grafiken zeigt perspektivische oder axonometrische Ordnungen mit weißen, hellen oder schwarzen Flächen. Den räumlichen Charakter unterstreicht Zittel durch grau angelegte Schatten. Zwischen wand- oder balkenartigen Teilen spannen sich rechteckige Flächen auf. Letztere sind mit Wasserfarben und Gouache angelegt und steuern mit ihren fließenden gelben, braunen, türkisen und blauen Tönen einen Kontrast bei zu den festen Strukturen. Beispiele für diese Gruppe sind Study for Cellular Grid #6 (2019), Study for Planar Configuration Variant #8 (2019) und Study for Planar Configuration Variant #10 (2019). Sie gleichen Architekturgrundrissen und Kassettendecken (platziert in einen unbestimmten weißen Raum) und laden dazu ein, das Dargestellte im eigenen Alltagsleben wiederzuentdecken, in Strukturen und Parzellen sei es von Straßen, Feldern oder Wohnungen. Die Künstlerin selbst bezeichnet diese Gruppe als Arbeitszeichnungen für die skulpturalen Ausführungen Planar Configurations (z. B. gebaute Nischen, die als Bettlager oder Sitzgelegenheit interpretiert und genutzt werden können). Mehr noch: Ihre eigenen Küchenkacheln oder Wohnzimmertische sind diesem Konzept unterworfen.
Die Ausstellung Works on Paper gibt einen Einblick in die abstrakten Studien von Andrea Zittel. Das breit angelegte lebensinvasive Werk der Künstlerin drängt sich in ihren grafischen Arbeiten nicht auf, sondern schimmert gleichsam durch die Wasserfarben-Technik durch, zeichnet sich tastend ab. Zittels Lieblingsfrage „how to live?“ hört man erst dann durch die Bilder, wenn man die reichlichen Echos darin entdeckt: Vielleicht das des Direktorenzimmers von Walter Gropius und damit des Weimarer Bauhaus-Feelings („Sammlung allen künstlerischen Schaffens zur Einheit“), vielleicht aber auch der raumerobernden Prouns des russischen Avantgarde-Künstlers El Lissitzky oder die der uferlos angewandten Raster des „architektonischen Künstlers“ Piet Mondrian. Auch hier gilt: Andrea Zittel, ihren alles durchdringenden und vielseitig nutzbaren Strukturen, sind keine Grenzen gesetzt. ♦
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Sprüth Magers
Andrea Zittel: Works on Paper, 27. 11. 2020–13. 2. 2021, Sprüth Magers, Berlin
Andrea Zittel, eternal border crosser between architecture, design and art, takes „life-shaping“ at its word and turns it into an œuvre. Part of this constructive cosmos is also her graphic work. The Berlin gallery Sprüth Magers shows a selection from 27. 11. 2020 to 13. 2. 2021..
Andrea Zittel is a Californian sculptor and installation artist. Just as American painter Georgia O’Keefe was drawn to the desert, she has lived in the Mojave Desert near Joshua Tree since 1999. Here she practices what she calls Experiments in Living. At zittel.org, she announces it right from the start: Her enterprise is called A-Z and, as the designation (besides the meaning by her initials) suggests, it is all-encompassing. Her work addresses all aspects of everyday life. Home furniture, clothing, food are just broad categories. She builds cabins in vast landscapes, creates installation-like furniture structures, weaves and sews fabrics, and grows vegetables in metal bins. Andrea Zittel sees everyday items as objects of investigation. With them she tries exploring human nature and the „social construction of needs.“ She is one of those creative people who bring life and work together in an artistic research project. Andrea Zittel stands for an investigative art of living.
From the extensive creative spectrum of the artist, Galerie Sprüth Magers selects a particular niche: graphics. They testify to the abstract way of working that accompanies the tangible projects that are close to life. The clearly recognizable theme of the 26 new works on paper is structure.
Andrea Zittel’s compositions consist of vertical and horizontal lines and rectangular surfaces, some of which are coloured. Part of the displayed pieces belongs to the series Vast and Specific (2020), which depict planar forms and are reminiscent of graphic elements such as public space signage and print design set in painted watercolour landscapes. The latter is a reference to the artist’s living environment, the vastness of the desert region.
Another part of the exhibited graphics shows perspective or axonometric orders with white, light or black surfaces. Zittel underscores the spatial character with grey shadows and spans rectangular areas between wall- or beam-like parts. The latter are created with watercolours and gouache and, with their flowing yellow, brown, turquoise, and blue tones, contribute a contrast to the stable structures. Examples of this group include Study for Cellular Grid #6 (2019), Study for Planar Configuration Variant #8 (2019), and Study for Planar Configuration Variant #10 (2019). They resemble architectural floor plans and coffered ceilings (placed in an indeterminate white space) and invite us to rediscover what is depicted in our own everyday life, in structures and plots be it of streets, fields or homes. The artist herself refers to this group as working drawings for the sculptural realizations Planar Configurations (e.g., built niches that can be interpreted and used as bedding or seating). Even more, her private kitchen tiles or living room tables are subjected to this concept.
The exhibition Works on Paper provides an insight into the abstract studies of Andrea Zittel. The artist’s broadly based life-invasive work does not impose itself in her graphic works, but shimmers through the watercolour technique, as it were, and stands out tentatively. Zittel’s favourite question „how to live?“ is only heard through the paintings when one discovers the abundant echoes therein: perhaps that of Walter Gropius‘ Director’s Room and thus of the Weimar Bauhaus feeling („unity of all arts“), or perhaps of the space-conquering prouns of Russian avant-garde artist El Lissitzky, or those of the boundlessly applied grids of „architectural artist“ Piet Mondrian. Here, too, Andrea Zittel, her all-pervasive and versatile structures have no limits.
TRANSLATION BY ÖZLEM ÖZDEMIR