Olafur Eliasson
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OLAFUR ELIASSON IN ISTANBUL:
YOUR UNEXPECTED ENCOUNTER

Istanbul Modern präsentiert die erste Einzelausstellung von Olafur Eliasson in der Türkei. Vom 7. Juni 2024 – 9. Februar 2025 bietet die Ausstellung die Gelegenheit, einige der Themen zu betrachten und zu erforschen, die seine 30-jährige Karriere auszeichnen: Licht, Farbe, Naturphänomene, Bewegung und Wahrnehmung.

20. August 2024 | Özlem Özdemir

 

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lafur Eliasson gehört zu den Künstlern, deren Namen selbst weniger kunstaffine Menschen kennen. Die Skulpturen und groß angelegten Installationen seines Studios, das der isländisch-dänische Künstler 1995 in Berlin gegründet hat, kreisen um elementare Themen wie Licht, Wasser, Erde, Farben, Bewegung und Wahrnehmung. Sie beleben die Erfahrung mit dem Alltäglichen und dem Naturhaften. Einige seiner Arbeiten bereichern aber auch Bauwerke, urbane und natürliche Räume. International bekannt wurde er 2003 mit The weather project in der Turbinenhalle der Londoner Tate Modern und 2008 mit The New York City Waterfalls. Beide gelten als Ikonen der zeitgenössischen Kunst. Beide sind Exempel für das Popularitäts- und Attraktionspotenzial der Kunst von Olafur Eliasson.

The weather project (eine technisch konstruierte nebulöse hoch gelegene Innenraum-Sonne) bewegte viele dazu, sich auf den Boden zu legen und sich von hier aus dem Geschehen hinzugeben. Bei The New York City Waterfalls handelte es sich um vier künstliche Wasserfälle monumentalen Ausmaßes, die sich entlang des East River in New York verteilten. (Beide Werke ziehen Menschen an, ähnlich wie es die tatsächlichen Naturattraktionen tun, wie die Niagarafälle, die Waitomo Caves in Neuseeland oder Gletscherhöhlen am Vatnajökull in Island.) Spätestens seit diesen zwei Arbeiten haftet Olafur Eliasson der Status des Publikumsmagneten an. Und das ist angesichts der spielerischen, überwältigenden, mitreißenden oder verzaubernden Qualitäten seiner Werke kein Wunder.

Dass seine Kunstwerke betont menschenbezogen sind, zeigt sich manchmal aber auch in unscheinbarerer Form, und zwar in ihren Namen. Olafur Eliassons Werktitel sind oftmals genauso an-sprechend wie seine Arbeiten selbst. Sein Trick: Er verwendet gern Pronomen in seinen Ausstellungstiteln und auch in vielen seiner Arbeiten tauchen sie auf. Ob «Your» oder sogar «Y/our»: In diesen kleinen Wörtern steckt viel, denn sie drücken etwas aus, was Olafur Eliasson sehr am Herzen liegt und das ist, dass seine Werke für die Menschen da sind und ohne die aktiv teilnehmenden, wahrnehmenden, am Werk mit kreierenden Personen nicht funktionieren oder zumindest nicht vollständig sind.

Auch die Ausstellung in Istanbul, seine erste Einzelausstellung in der türkischen Metropole, liegt ganz in dieser Tradition. Sie heißt Your unexpected encounter. Man fragt sich gleich: Eine Begegnung für mich, die unerwartet ist – und doch angekündigt wird? Das klingt paradox, rätselhaft und macht sofort neugierig.

Istanbul Modern präsentiert über ein halbes Jahr hinaus eine umfassende Auswahl von Werken aus der 30-jährigen Karriere von Olafur Eliasson. Die Ausstellung beinhaltet 40 Werke des isländisch-dänischen Künstlers. Darunter gibt es neue Produktionen aus den Bereichen Installation, Skulptur und Fotografie, wobei die verschiedenen Disziplinen fließend ineinander übergehen. Die gezeigten Arbeiten drehen sich hauptsächlich um Wasser, Licht, Farbe, Wahrnehmung, Bewegung, Geometrie und die Umwelt.

Den Auftakt bildet eine permanente Installation, deren Titel auch der Ausstellung ihren Namen gibt: Your unexpected journey. Der Künstler hat sie speziell für das von Renzo Piano neu entworfene Gebäude von Istanbul Modern kreiert. (Es liegt im Stadtteil Karaköy, direkt am Bosporus.) Seit der Eröffnung und Einweihung des Museums im Mai 2023 hängen sie im Treppenhaus: Mehrere in größeren Abständen übereinander hängende, reflektierende, kreisförmige Strukturen, die die Rechtwinkligkeit des Gebäudes kontrastieren sollen. Das Element des Unerwarteten, das der Ausstellungstitel verspricht, kündigt sich hier bereits an.

Your unexpected journey (2022) besteht aus komplexen, scheinbar frei im Raum schwebenden Sphären – jeweils eine auf jedem Stockwerk des zentralen Treppenaufgangs des Museums. Der Überraschungsmoment stellt sich bei näherer Betrachtung heraus: Es handelt sich um „Scheinkugeln“. Zusammengesetzt sind sie aus halbkreisförmigen Segmenten, die an kreisförmigen Spiegeln befestigt sind. Durch die Reflexionen werden die Segmente visuell ergänzt und so entstehen virtuelle Kugeln, die zwei Dinge in sich vereinen: den realen Raum und sich selbst. Die Installation schafft die Möglichkeit von sich ständig verändernden Begegnungen mit einem Objekt, das man während des Hinauf- und Hinuntergehens auf der Treppe quasi immer wieder anders mit erschafft. Jede der drei Formen unterscheidet sich leicht von der vorhergehenden, wobei die Geometrie vom Erdgeschoss bis zum obersten Stockwerk immer komplexer wird.

Olafur Eliasson Your unexpected journey, 2022 Steel, stainless steel, aluminium, gold leaf, paint (black), mirror foil, wire, in three parts
Olafur Eliasson / Your unexpected journey, 2022 / Steel, stainless steel, aluminium, gold leaf, paint (black), mirror foil, wire, in three parts / 200 x 200 x 60 cm | 267 x 267 x 195 cm | 400 x 400 x 160 cm // Installation view: Olafur Eliasson: Your unexpected encounter (Senin beklenmedik karşılaşman), Istanbul Museum of Modern Art, Türkiye // Photo: Kayhan Kaygusuz // Courtesy of Istanbul Museum of Modern Art Collection // © 2022 Olafur Eliasson

 

Die Werke, die im zweiten Stock des Museums zu sehen sind, zeugen von den typischen Interessenfeldern des Künstlers. Dazu gehören Wahrnehmung, Farbe, Licht, Geometrie und Umwelt. Exemplarisch vorgestellt seien folgende seiner Arbeiten.

Dusk to dawn, Bosporus (2024) ist eigens für die Ausstellung entstanden. Die Arbeit aus Glas und Holz ist indirekt mit dem Thema der Umwelt verbunden. Angelehnt an die weltbekannte Meeresenge von Istanbul, scheint sie den Künstler zu der poetischen Beschreibung „von der Dämmerung bis zum Morgengrauen“ inspiriert zu haben. In diesem Sinne kann man das Werk Dusk to dawn, Bosporus als eine materialisierte Farbenassoziation auffassen, die die wechselhaften Farbeindrücke des Bosporus wiedergeben. Mundgeblasene Glasplatten von verschiedenen pastelligen Farben stehen nebeneinander gestapelt auf einem regalartigen Stück Treibholz. (Letzteres kann man als eine Referenz an Gewässer lesen und dadurch auch an das flüssige Element, passend zum Glas, das nichts anderes ist als gefrorene Flüssigkeit.) Die Glasplattenkomposition ist jedoch nicht „maßgeschneidert“ auf den Bosporus, dafür hat der Künstler sie in anderen Variationen zu oft durchgespielt und auch ausgestellt (siehe The slow life of sunlight und Two run-away blind spots). So wie bei allen diesen Glasscheiben-Arbeiten zeichnet sich auch Dusk to dawn, Bosporus durch transparente, changierende, sich überlagernde, ineinander übergehende, vermischende Eigenschaften aus. Die kreisförmigen bzw. elliptischen Ausschnitte lassen ungeahnte Töne durch die Glasschichten hindurchschimmern. Während man an dem Werk entlanggeht, gleiten die wie ausgestanzten Rundungen ineinander über und sorgen für illusionistische Momente.

Olafur Eliasson - Dusk to dawn, Bosporus, 2024 Coloured glass (yellow, blue, blue fade, pink, amber), coloured glacier-rock-flour glass (light green), silver, driftwood
Olafur Eliasson / Dusk to dawn, Bosporus, 2024 / Coloured glass (yellow, blue, blue fade, pink, amber), coloured glacier-rock-flour glass (light green), silver, driftwood / 109 x 462 x 13,5 cm // Installation view: Olafur Eliasson: Your unexpected encounter (Senin beklenmedik karşılaşman), Istanbul Museum of Modern Art, Türkiye // Photo: Kayhan Kaygusuz // Courtesy of the artist; neugerriemschneider, Berlin; Tanya Bonakdar Gallery, New York / Los Angeles // © 2024 Olafur Eliasson

 

Sunset kaleidoscope widmet sich dem Thema der Innen-Außen-Grenze und ihrer Überschreitung. Das 2005 entstandene Werk hat bereits eine Welttournee hinter sich. (Bisherige Stationen waren u.a.: New York, San Francisco, Goslar und Sydney.) Die Arbeit besteht aus einem rechteckigen Holzschacht, der sich durch eine Galeriewand zieht und den Blick auf die Welt außerhalb des Ausstellungsraums freigibt. Die Innenwände des Schachtes sind mit Spiegeln verkleidet und vor der quadratischen Öffnung dreht sich eine gelbe runde Scheibe (ein Filterglas mit Farbeffekt). Scheibe und Außenansicht werden in den Spiegeln reflektiert. Der kaleidoskopische Kasten ermöglicht einen transformierten Anblick der Außenwelt. Die Spiegelbilder der Außenwelt vermischen sich mit den Reflexionen einer rotierenden gelben Scheibe. In der Ausstellung im Istanbul Modern – einem Museumsgebäude direkt am Bosporus gelegen, der zusammen mit der Stadtsilhouette für die Bevölkerung eine allgegenwärtige Erscheinung ist ­– verändert sich der Anblick des Bosporus in den Augen der Besucherinnen und Besucher je nach Standpunkt. Die Aussage ist nicht neu und doch immer wieder aufs Neue aufregend: Je nachdem wie man etwas betrachtet, entsteht eine weitere Version der Welt, eine andere Weltsicht.

Olafur Eliasson - Sunset kaleidoscope, 2005 Wood, steel, mirrors, motor, colour-effect filter glass
Olafur Eliasson / Sunset kaleidoscope, 2005 / Wood, steel, mirrors, motor, colour-effect filter glass / 185 x 200 x 46 cm / Installation view: Olafur Eliasson: Your unexpected encounter (Senin beklenmedik karşılaşman), Istanbul Museum of Modern Art, Türkiye // Photo: Kayhan Kaygusuz // Courtesy of the artist; neugerriemschneider, Berlin; Tanya Bonakdar Gallery, New York / Los Angeles // © 2005 Olafur Eliasson

 

Model for your circular city (2024) ist eine Nachfolgearbeit von Model room aus dem Jahr 2003. Letztere wurde bis zu ihrem Ankauf durch das Moderna Museet in Stockholm im Jahr 2015 kontinuierlich weiterentwickelt. Die Modelle bieten, wie in einer Topografie arrangiert, Stichproben aus der Atelierpraxis Eliassons. Zum Hintergrund: Von 1996 bis 2014 arbeitete Olafur Eliasson mit Einar Thorsteinn (1942–2015) zusammen, einem isländischen Künstler, Architekten, Mathematiker und Protegé von Buckminster Fuller. Er war ein Mitarbeiter und enger Freund von Eliasson. Model room bzw. Model for your circular city enthält eine breite Palette von den Ergebnissen dieser fruchtbaren langjährigen Zusammenarbeit: aufwendig konstruierte Modelle und Prototypen, geometrische Experimente in verschiedenen Größen.

Olafur Eliasson - Model for your circular city, 2024 Mixed-media models, maquettes, prototypes, wood
Olafur Eliasson / Model for your circular city, 2024 / Mixed-media models, maquettes, prototypes, wood / 440 cm | ø Diameter 360 cm / Installation view: Olafur Eliasson: Your unexpected encounter (Senin beklenmedik karşılaşman), Istanbul Museum of Modern Art, Türkiye // Photo: Kayhan Kaygusuz // Courtesy of the artist; neugerriemschneider, Berlin; Tanya Bonakdar Gallery, New York / Los Angeles // © 2024 Olafur Eliasson

 

Die Skulptur Bridge from the future (2014) drückt – in statischer Form – die dynamischen Energien von Spiralen und Wirbeln aus. Aus der Ferne erinnert sie (in der Seitenansicht) an einen extrem spitz zulaufenden, durchlässigen Trichter oder: an einen Hexenhut. Aus der Nähe betrachtet, entpuppt sie sich als ein Gebilde aus sich gegenläufig drehenden Spiralen: die eine aus gekrümmten Stahlstangen, die andere aus Dreiecksplatten. Die Arbeit basiert auf einer Studie für die ortsspezifische Arbeit Wirbelwerk (2012) im Lenbachhaus in München. Später wurde die Struktur mit Messing beschichtet und so präpariert, dass sie für eine horizontale Vorführung geeignet ist. Durch die neue Ausrichtung blicken die Besucherinnen und Besucher direkt in die Tiefe des Wirbels. Das dekorativ anmutende Objekt transportiert Ideen rund um Phänomene der Physik und Astrophysik: Zentripetalkraft, Schwarze Löcher und – so wie der Titel Bridge from the future mitschwingen lässt – Raumzeit.

Olafur Eliasson - Bridge from the future, 2014 Stainless steel, brass, polyester resin
Olafur Eliasson / Bridge from the future, 2014 / Stainless steel, brass, polyester resin / 241.6 x 220 x 185.4 cm // Installation view: Olafur Eliasson: Your unexpected encounter (Senin beklenmedik karşılaşman), Istanbul Museum of Modern Art, Türkiye // Photo: Kayhan Kaygusuz // Courtesy of the artist; neugerriemschneider, Berlin; Tanya Bonakdar Gallery, New York / Los Angeles // © 2014 Olafur Eliasson

 

Critical Zone Sphere (2020) ist eine große Kugel aus aneinandergereihten, gebogenen Rippen. Sie ist eine Zusammensetzung aus einzeln gefalteten Modulen aus eloxiertem Aluminium. Gespannte Drahtseile sind das verbindende Element. Die Rahmen sind so konstruiert, dass die Kugel zur Lagerung oder zum Transport abgeflacht werden kann. Aufgeklappt präsentieren sich die Module mit farbigen Glasscheiben. Eine leuchtende Lampe im Zentrum der Kugel projiziert ein Muster aus Schatten und dezent farbigem Licht auf die Umgebung. Der Titel Critical Zone Sphere steht dafür, dass die Erde, vom Erdmantel bis zur unteren Atmosphäre, eine einzigartig ausgewogene und fragile Zone darstellt, die nur in diesem Zustand Leben ermöglicht.

Olafur Eliasson - The critical zone sphere, 2020 Coloured glass (blue, orange), colour-effect filter glass (orange), aluminium, stainless steel, light bulb, LEDs, light bulb
Olafur Eliasson / The critical zone sphere, 2020 / Coloured glass (blue, orange), colour-effect filter glass (orange), aluminium, stainless steel, light bulb, LEDs, light bulb / ø Diameter 208 cm // Installation view: Olafur Eliasson: Your unexpected encounter (Senin beklenmedik karşılaşman), Istanbul Museum of Modern Art, Türkiye // Photo: Kayhan Kaygusuz // Courtesy of the artist; neugerriemschneider, Berlin; Tanya Bonakdar Gallery, New York / Los Angeles // © 2020 Olafur Eliasson

 

Die Wirkung der Lichtinstallation Your pluralistic coming together (2024) ist vollständig davon abhängig, ob sich jemand im Raum befindet. Erst durch die Anwesenheit einer Person tritt das Werk in Erscheinung; erst dann macht sie sich bemerkbar, wird existent. Es gibt zunächst nur eine leere, weiße Wand. Diese Fläche ist gleichmäßig von acht Scheinwerfern beleuchtet. Sobald eine Person den Raum betritt und die Lichtstrahlen durchquert, erzeugt sie durch ihre Bewegung übereinandergelagerte Silhouetten. (Das Prinzip hat Eliasson, vielleicht zum ersten Mal, 2009 mit Slow-motion shadow in colour erprobt.) Wie Schatten gleiten diese kaskadengleichen Gebilde in unterschiedlichen Farben über die Wand. Zudem ändern sich ihre Farbintensität und ihr Maßstab, je nachdem wie man sich den Lichtern nähert oder sich von ihnen entfernt. Besucherinnen und Besucher zeichnen und malen und filmen zugleich und das allein durch ihre Präsenz und Bewegungen. Der technische Hintergrund zu dem verblüffenden Effekt verbirgt sich in den leicht versetzten Scheinwerfern und den verschiedenen Farbgelen, die den Lampen hinzugefügt sind. Wenn alle Lampen zusammen leuchten, erzeugen sie die Farbe Weiß. In dem Moment, in dem eine der Lampen in ihrem Strahl unterbrochen wird, kommt es zu Schatten in anderen Farbtönen. Die Installation gleicht einer dynamischen Demonstration einer physikalischen Theorie, die man noch aus Schulzeiten kennt:  die Theorie des additiven Farbmodells.

Olafur Eliasson - The critical zone sphere, 2020 Coloured glass (blue, orange), colour-effect filter glass (orange), aluminium, stainless steel, light bulb, LEDs, light bulb
Olafur Eliasson / Your pluralistic coming together, 2024 / LED lamps, glass colour filters (purple, blue, turquoise, green, yellow, amber, red, magenta), steel, paint (black), black cardboard, ballasts // Dimensions variable // Installation view: Olafur Eliasson: Your unexpected encounter (Senin beklenmedik karşılaşman), Istanbul Museum of Modern Art, Türkiye // Photo: Kayhan Kaygusuz // Courtesy of the artist; neugerriemschneider, Berlin; Tanya Bonakdar Gallery, New York / Los Angeles // © 2024 Olafur Eliasson

 

Im Überblick lässt sich über die Ausstellung Your unexpected encounter sagen: Licht und seine Eigenschaften sind ihr beherrschendes Thema. Linsen, spiegelnde Oberflächen, Projektionen, farbiges Glas und Kaleidoskope laden dazu ein, die eigenen Wahrnehmungen mithilfe der Werke zu erproben, sich über Raum und Geometrie bewusst zu werden. (Besonders hervorgehoben seien noch die Aquarelle des Künstlers, die Teil seiner fortlaufenden Serie „Farbexperimente“ sind. Sie basieren auf der Entwicklung einer neuen Farbtheorie und spiegeln seine Produktionen im Komplex von Wasser, Umwelt und Farbe wider.)

Für ein weitergehendes Verständnis von Eliassons Arbeiten bietet es sich an, nach seinen künstlerischen Verwandtschaften zu suchen. Welche Richtungen haben ihn beeinflusst? Was sind seine Inspirationen? Welche Personen oder Bücher waren wichtig für ihn?

Als erster Anknüpfungspunkt eignet sich seine in Istanbul ausgestellte Glas-Arbeit Dusk to dawn, Bosporus. Sie lässt schnell an die Glasplatten der belgischen Künstlerin Ann Veronica Janssens1 denken. Auch Janssens lehnt sie an Wände an. Allerdings sind die Glasplatten bei ihr einzeln und in Abständen voneinander angeordnet. Außerdem sind sie in ihrer Art und ihren Oberflächen differenzierter. (Mal sind sie gehämmert, geglüht oder gerippt, mal handelt es sich um Floatglas, mal Crashglas, mal nutzt sie für die Farben PVC-Folien, mal Gelatinefilter.) Ann Veronica Janssens (die 1997, wie auch Eliasson, an der 5. Istanbul Biennale teilgenommen hatte) ist bekannt dafür, wie sie das ephemere Potenzial von Materialien herausarbeitet. Sie nutzt ähnliche Materialien wie Eliasson: Farben, Nebel, Glas, Wasser und Licht. Sie verleiht ihnen jedoch eher eine Tendenz zum Zarten, fast Hauchhaften. Ihre Arbeiten drücken Auflösung, Flüchtigkeit und Undefinierbarkeit aus. Bei Blue, Red, and Yellow (2001/2009) lässt Janssens die Menschen (ähnlich wie bei Eliassons Weather Project in der Tate Modern) einen Raum betreten, der gefüllt ist mit Nebel und farbigem Licht. Es ist nur eines unter ihren vielen Nebelprojekten, das sich konzentriert auf die körperliche Desorientierung, das Gefühl der Grenzenlosigkeit und der Verschmelzung mit gleichsam immateriellen Farben. All das passiert bei Blue, Red, and Yellow in einer mobilen, containerähnlichen Struktur – nicht wie bei Eliasson in einer riesigen Turbinenhalle, die das von Eliasson gewollte überwältigende, an eine Naturgewalt erinnernde Ereignis erst möglich macht. Wichtige Schnittstellen von Janssens und Eliasson sind die Bewusstmachung von Wahrnehmungen, die teilnehmende Funktion von Ausstellungsgästen, das Experiment und Zusammenarbeiten mit Wissenschaftlern. Doch Janssens Werken haftet eine nuanciertere und sensitivere Qualität an. Eigentliches Objekt ihrer Arbeiten sind nicht die Gegenstände an sich, sondern die nicht greifbaren Eigenschaften ihrer Materie (Glanz, Leichtigkeit, Transparenz, Feuchtigkeit) und ihre physikalischen Phänomene (Brechung, Perspektive, Gleichgewicht, Wellen).

Auch die Gegenüberstellung mit dem amerikanischen Künstler James Turrell, der sich mit Licht und Raum beschäftigt, ist aufschlussreich. Sein bekanntes Werk Raemar Blue von 1969 zeugt bereits davon, wie er beide Themen angeht: Anders als bei Eliasson neigt Turrell, der auch Psychologie und Mathematik studiert hat, zur puristischen und meditativen Ausstrahlung. Jedoch besteht ein besonderer Berührungspunkt bei beiden Künstlern in ihrer Beschäftigung mit der Umwelt und darin, dass die Besucherinnen und Besucher körperlich gesehen und mit ihren Wahrnehmungen Teil des Kunstwerks sind. Dort wo Eliasson aber die Umwelt (sei es Stadt oder Natur) als Problem (siehe Klimakrise) oder als experimentelles Objekt für die Wahrnehmung nutzt, geht James Turrell für die Wahrnehmung in endlose Landschaften und in geistige Regionen hinein. So erschafft er mit Roden Crater ein groß angelegtes Kunstwerk mitten in einer Wüste. Zentrum der gigantesken Land-Art-Installation ist der erloschene Vulkan Roden Crater, den Turrell zu einem Observatorium transformiert. Das Werk wird zu einem Ort mit Tunneln und Öffnungen, die auf archaische Weise den Blick in den Himmel freimachen und nachts Planeten und Sterne ins Zentrum rücken. Turrell kreiert Erfahrungen des wortlosen Gedankens: „What is important to me is to create an experience of wordless thought […].”2) Was sein Werk auszeichnet, ist ein erhabener, besinnlicher und kosmischer Touch. Eine weitere Nähe zu Eliasson liegt wiederum in seinen Erfahrungen mit Bewegung. Dort, wo Eliasson aber gerne seine räumlichen Erfahrungen erwähnt, die er als Teenager mit Streetdance hatte (dazu später mehr), berichtet Turrell von seinen Zeiten als Pilot: „It’s surprising how you can lose yourself when you can see so far. You are no longer down in the maze, no longer what pilots would call, „a bottom dweller.“ This is a new kind of perception.“3

Olafur Eliasson zeichnet sich gegenüber Janssens und Turrell dadurch aus, dass seine Werke die Menschen manchmal fast offensiv anlocken und involvieren. Er verheißt spielerisch-körperliche Erlebnisse. Manche seiner Werke führen zu Erfahrungen, die im wahrsten Sinne des Wortes sensationell sind. (Zur Eytmologie von „sensationell“: Der Stamm des lateinischen Wortes „sensationālis“ ist „sensation-“ und bedeutet Empfindung/ Sinneseindruck; das Suffix „-ālis“ bedeutet „zugehörig zu“.) Das Aktive und Wahrnehmungszentrierte seiner Arbeiten verbindet er inhaltlich mit der Bedeutung von Naturphänomenen. Das Erlebnis führt zur Erkenntnis – oder regt zumindest zum Nachdenken an. Fast kann man sagen – und auch darin zeichnet er sich gegenüber seinen Kolleginnen und Kollegen aus ­– dass einige seiner Arbeiten an Pädagogik grenzen. Wer hätte sich nicht den ein oder anderen „Eliasson“ im Physik-Unterricht gewünscht?

An dieser Stelle lohnt sich ein Exkurs in die Arbeitshaltung von Olafur Eliasson. „Für mich ist das Experiment als Format zur Untersuchung notwendig, wenn wir auf einer konstanten und prüfenden Interaktion mit der Realität bestehen wollen. Oder anders ausgedrückt: Indem wir experimentieren, können wir die Normen hinterfragen, nach denen wir leben und somit Wirklichkeit herstellen.“4 So betont Eliasson in Nichts bleibt gleich (2009), welchen Stellenwert für ihn das Experimentieren hat. Das Zitat bezieht sich auf das Institut für Raumexperimente (in Berlin), dessen Gründungsdirektor er 2006 war und das er bis 2014 betreute.

Das Institut für Raumexperimente – wohl aber auch das eigene Studio – steht für ein besonderes Ziel von Eliasson: Radikale Ideen des Lernens in unsere heutige Gesellschaft zu übertragen. Als Vorbilder dieses „radikalen Lernens“ führt Eliasson folgende Namen auf5: Center for Advanced Visual Studies am MIT, gegründet von György Kepes auf der Grundlage seiner Auseinandersetzung mit der New Bauhaus School in Chicago; Joseph Albers und seine Unterrichtsmodelle am Black Mountain College; O.M. Ungers Lehrveranstaltungen an der Technischen Universität Berlin in den 60er Jahren; das Institut des Hautes Etudes en Arts Plastiques in Paris, gegründet von Pontus Hultén mit Daniel Buren, Serge Fauchereau und Sarkis. Als das Institut für Raumexperimente 2014 aus den Gefilden seines Studiogebäudes auszog, schrieb Olafur Eliasson: „Fünf Jahre des Experimentierens sind mental und physisch durch über 400 Beteiligte hindurch geflossen: Experten für gewaltfreie Kommunikation, vegane Köche, Komponisten, Anwälte, Philosophen, Sozialwissenschaftler, Astrophysiker, Architekten, Dichter, Parcours- und Slacklinespezialisten, Choreographen, Künstler, einen Reh-Imitator, einen Kung-Fu Meister und einen Politiker.“6

In der Autobiographie seines Studios weht der gleiche interdisziplinäre und atemberaubend facettenreiche Wind: Sein Team besteht aus Handwerkern, spezialisierten Technikern, Architekten, Archivaren, Kunsthistorikern, Web- und Grafikdesignern, Filmemachern, Köchen und Verwaltungsangestellten. Gearbeitet wird an Kunstwerken, Projekten, Events und Ausstellungen. Es wird experimentiert, archiviert, geforscht, veröffentlicht, kommuniziert, kooperiert und nicht zuletzt realisiert.7 Fast klingt es so, als ginge es Eliasson immer um die ganze Welt. Von ähnlicher und fast erdrückender Umfassendheit sind auch die Hintergründe und theoretischen Grundlagen seiner Arbeit.

So offenbart er uns in Felt, experienced, lived! (2022): „I think best with other people.”8 Und damit sind nicht nur seine Teammitglieder aus den unterschiedlichsten Genres gemeint. In diesem Text fächert er auf, welche Personen ihn auf seinem Weg als Künstler bereichert haben. Über Jahre hinweg hat sich durch Kontakte und Lektüren ein ganzer Pool von Inspirationen angesammelt. Er selbst spricht von einer eklektischen Mischung aus Denkern, Forschern und Wissenschaftlern: Philosophen, Anthropologen, Kulturgeografen, Biologen, Botanikern, Tänzern und Schriftstellern. (Und er fügt vielsagend und typisch für ihn hinzu: um nur einige zu nennen.) Tatsächlich grenzt die Vielfalt der Einflüsse und Denkanstöße, die Eliasson anführt, an die maßlose Vernetztheit eines World Wide Web.

„I move with ideas, I move through ideas, I try to embody ideas in my work and in my practice.”9 Es ist nicht zu überhören: So sehr Olafur Eliasson mit seinen Kunstwerken den Körper und seine Sinne und Wahrnehmungen ansprechen, so sehr werden sie von Ideen belebt. Und zu Eliassons internationalen Ideenspendern und -spenderinnen gehören (wieder um nur einige zu nennen): Bruno Latour, ein französischer Soziologe und Philosoph, dessen Werk sich auf die Soziologie von Wissenschaft und Technik konzentriert; Steen Koerner, ein dänischer Tanzregisseur, Choreograf und Tänzer, durch den Olafur Eliasson als Teenager, als er selbst ein Straßentänzer war, den Unterschied zwischen dem Raum des Straßentanzes und dem des Balletts lernte; Natasha Myers, kanadische Professorin für Anthropologie, die sich mit Kunst, Ethnografie und dekolonialer Ökologie beschäftigt und den Begriff „Planthroposzän“ geprägt hat, der für eine Lebensweise steht, in der Menschen ihre tiefe Zwischenbeziehung zu den Pflanzen erkennen. Von Myers hebt Eliasson eine Aussage besonders hervor, da sie eine Verdichtung dessen darstellt, womit er arbeitet: „Intra-animacy is generated in contexts where bodies are open to move with and be moved by one another.“10; Alva Noë, amerikanischer Professor für Philosophie und Kognitionswissenschaft, dessen Forschung und Lehre sich auf Wahrnehmung, Bewusstsein und Kunstphilosophie konzentriert: Er ist Autor von Action in Perception und vertritt die Anschauung, dass Wahrnehmung nicht etwas ist, das mit uns oder in uns geschieht, sondern etwas, das wir tun; Minna Salami, eine finnisch-nigerianische Journalistin, Schriftstellerin, Dozentin, Gesellschaftskritikerin und Autorin von Sensuous Knowledge: A Black Feminist Approach for Everyone; María Lugones, eine US-argentinische Philosophin, Soziologin und Aktivistin: Eliasson hebt ihren Text Playfulness, ‘World’-Travelling and Loving Perception hervor; Robert Macfarlane, britischer Professor für Literatur und Umweltwissenschaften und Autor von Büchern über Landschaft, Natur, Erinnerung und Sprache: Er schrieb den Bestseller Underland: A Deep Time Journey.

Wer sich auf eine Tour durch eine Ausstellung von Olafur Eliasson begibt, sei empfohlen, vorher in das reichhaltige Angebot seiner Homepage einzutauchen. Hier gibt es sogar einen eigenen Eliasson-Fernsehkanal namens SOE.TV zu entdecken. Interessierte hält er auf dem Laufenden mit kurzen Filmen über Experimente oder gibt kontemplative Einblicke in die Aktivitäten der Studioküche. Insbesondere den Menüpunkt „Read“ sollte man unter die Lupe nehmen. Hier findet man – neben dem oben besprochenen Text Felt, experienced, lived! (2022) – viele genauere Einblicke in seine Arbeit. Olafur Eliasson gehört nicht zu den Künstlern, die ein Geheimnis um sich und seine Kunst machen: Offenherziger als mit dem Interview-Titel The Whys and Hows of My Art Making kann man dieser Haltung nicht Ausdruck verleihen.

Auch vor dem Besuch von Your unexpected encounter sollte man in seine Schriften eintauchen. Denn nicht nur seine Arbeitsweise, sondern auch seine einzelnen Werke belegt Olafur Eliasson gerne mit Worten; auf seiner Homepage verleiht er ihnen sogar Schlagwörter. Die meisten dieser Tags klingen sehr nüchtern wie architecture, shadow, transformation, movement. Doch selbst hier kann er sich manchmal die direkte persönliche Anrede nicht verkneifen und so lautet eines seiner Tags: take your time. Diesen Rat sollte man auch für seine Istanbuler Ausstellung beherzigen.

Ein letztes Schlusswort: Istanbul als ein Ausstellungsort hat für Olafur Eliasson einen besonderen Stellenwert. 1997 hatte er an der 5. Internationalen Istanbul-Biennale unter dem Titel On Life, Beauty, Translations and Other Difficulties teilgenommen. In Bezug auf Your unexpected encounter bekennt der heute 57-jährige Künstler, dass er ohne diese Begegnung mit Istanbul vor fast drei Jahrzehnten nicht der Künstler geworden wäre, der er heute ist. In einem Interview des türkischen Fernsehens zur Ausstellung beschreibt er die eliassonsche Sicht auf diese dynamische Metropole zwischen West und Ost so: „Ich mag es, wenn ich den Bosporus sehe. Es gibt ein gewisses Leben, es gibt viel Aktivität, aber es ist kein Chaos. Es ist eher wie ein Tanz.“11

 

 

¹ https://journal-a.com/nachdenken-ueber-nebel-und-andere-phaenomene-hot-pink-turquoise-ann-veronica-janssens-im-louisiana-museum-of-modern-art/; letzter Zugriff 11.8.2024

² https://haeusler-contemporary.com/james-turrell-tall-glass-2023_en; letzter Zugriff 20.8.2024

³ https://www.conversations.org/story.php?sid=32; letzter Zugriff 20.8.2024

4 https://raumexperimente.net/de/meta/nothing-is-ever-the-same/; letzter Zugriff 20.8.2024

5 ebd.

6 https://raumexperimente.net/de/meta/now-is-always-different/; letzter Zugriff 20.8.2024

7 https://olafureliasson.net/studio; letzter Zugriff 20.8.2024

8 https://res.cloudinary.com/olafureliasson-net/image/upload/pdf/felt-experience-lived_32039.pdf; S. 55; letzter Zugriff 20.8.2024

9 ebd; S. 56

10 ebd.; S. 63

11 „Olafur Eliasson’un Istanbul’a özel ürettigi eserin detayları ne? | Ne Yapsak? – 22 Haziran 2024“ (https://www.youtube.com/watch?v=niR1s0oaDDY; [00:04:47]); Übersetzung des Zitats v. A.; letzter Zugriff 20.8.2024

 

Portraitfoto from Olafur Eliasson - January 2024
Portrait of Olafur Eliasson // Photo: Louise Yeowart, 2024 // Courtesy of Studio Olafur Eliasson