Sarah Oppenheimer
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SARAH OPPENHEIMER: BÖDEN, DECKEN UND WÄNDE UND WAS DAZWISCHEN ALLES MÖGLICH IST

„Anything on the scale of MASS MoCA is apt to be entertaining, even taste and intelligence.” So der Kunstkritiker Peter Schjeldahl, in einem seiner ersten Beiträge für The New Yorker¹. Das war 1999. Damals wurde das mehr als 200 Jahre alte und etwa 64 Hektar große ehemalige Industrieareal in der Stadt North Adams in Massachusetts (USA) in eine Kulturstätte verwandelt. Und zwanzig Jahre später, genauer gesagt ab dem Oktober 2019, zeigt nun das MASS MoCa eine Arbeit einer amerikanischen Künstlerin, auf die die Beschreibung fast genauso gut passt: Sarah Oppenheimer.

2. Dezember 2019 | Özlem Özdemir

 

Sarah Oppenheimer, 1972 in Austin geboren und wirkend in New York, studierte zunächst Semiotik an der Brown University (wo sie 1995 ihren Bachelorabschluss erhielt) und später Malerei mit dem Abschluss Master of Fine Arts der Yale University (1999). Ein Überblick über ihr bisheriges Werk zeigt aber schnell, dass beide Studiengänge ein Sprungbrett waren ins dreidimensionale Arbeiten und dass die Titel ihrer Arbeiten ausschließlich aus kryptisch-seriellen Zusammenstellungen aus Zahlen und Buchstaben bestehen.

S-337473, so heißt die Arbeit, die das MASS MoCa ab Oktober dieses Jahres präsentiert. Sie besteht aus zwei großen Glas-Metall-Strukturen, die durch einen einzigartigen Schwenkmechanismus verankert sind, von Oppenheimer als „switch“ (Umschalter) bezeichnet, und sich im 45-Grad-Winkel drehen lassen. Verraten sei vorerst nur: In die „Kategorie S“ gelangen alle Arbeiten mit „switch“.

Eine weitere Abkürzung, die neugierig macht, ist das kleine „R&D“, das sich auf der Homepage von Sarah Oppenheimer zwischen die zwei weiteren Menupunkte gezwängt hat. Kurz recherchiert, stellt sich heraus, das die Buchstaben für Research und Development stehen und einmal angeklickt öffnet sich eine ganze Fundgrube von Arbeitsskizzen, 3-D-Darstellungen, Dokumentationsphotos- und filme von den Arbeitsprozessen, den Materialien, Werkzeugen und Ähnlichem.

Tauchen wir also ein wenig ein in die Welt der Oppenheimer und nutzen wir ihre R&D-Einblicke. Die Projektliste der Künstlerin beginnt 2008 mit ihrer Arbeit „610-3365“, die sie lapidar erläutert mit „Plywood and existing architecture“. Entstanden war sie in der Mattress Factory in Pittsburgh im Rahmen der Ausstellung „Inner and Outer Space“. Teil der Installation ist ein – auf den ersten Blick – länglicher rinnenhaft wirkender Körper auf dem Boden.

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / 610-3365. Plywood and existing architecture. Fourth floor opening dimensions: 84”× 16” Total dimensions variable. Installation view: Mattress Factory, Pittsburgh, USA, 2008

 

Oder sollte man sagen im Boden? Betrachtet man ein Foto von diesem Anblick, ist man nicht sicher, ob man diesen Körper eher als flach oder gewölbt, als in den Boden eingelassen oder darauf auflagernd beurteilen soll und der Betrachter rätselt ob der Beschaffenheit der Innenseite der Rinne, in der sich etwas zu spiegeln scheint und irgendwie an die Reflektionen einer glatten Wasseroberfläche erinnert.

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / 610-3365. Plywood and existing architecture. Fourth floor opening dimensions: 84”× 16” Total dimensions variable. Installation view: Mattress Factory, Pittsburgh, USA, 2008

 

Aber das kann nicht sein. In Wahrheit handelt es sich hierbei um den Anfang einer – zunächst breiten – Röhre, die bis ins untere Geschoss reicht, dort quer durch den Raum geht und sich quasi unterwegs verjüngt, bis es aus einem Fenster hinausragt und sich dort zum Guckloch entpuppt. Kann es eine spannendere Umständlichkeit geben, als die, von einem Geschoss aus über das Fenster im Untergeschoss hinauszuschauen?

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / 610-3365. Plywood and existing architecture. Fourth floor opening dimensions: 84”× 16” Total dimensions variable. Installation view: Mattress Factory, Pittsburgh, USA, 2008

 

In MF-142 (2009) werden die räumlichen Eingriffe großflächiger und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Künstlerin setzt nicht mehr nur am Boden eines Zimmers an, sondern greift gleich den ganzen Boden als Gegenstand ihrer Arbeit auf. So knöpft sie sich nun allein das Parkett vor, einem Bauelement, mit dem sie schon bei „610-3365“ Erfahrungen gemacht hatte. Tatort ist diesmal die Ausstellungsfläche von Annely Juda Fine Art in London.

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / MF-142, 2009. Flooring, construction materials and existing architecture. Total dimensions variable. Installation view: Annely Juda Fine Art, London, UK, 2009. Photo credit: Stephen White

 

Wo bei „610-3365“ die Aufmerksamkeit nach unten gelenkt wurde, geht sie diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Sarah Oppenheimer fabriziert hier eine materialisierte Reflektion und diese Spiegelung funktioniert per „Imitat“ des Parketts, das sich – untypisch für ein Parkett – vom Boden abhebt.

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / MF-142, 2009. Flooring, construction materials and existing architecture. Total dimensions variable. Installation view: Annely Juda Fine Art, London, UK, 2009. Photo credit: Stephen White
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Courtesy of Sarah Oppenheimer / MF-142, 2009. Flooring, construction materials and existing architecture. Total dimensions variable. Installation view: Annely Juda Fine Art, London, UK, 2009. Photo credit: Stephen White

 

Sarah Oppenheimer experimentiert bei MF-142 mit der Idee und mit der Gestalt eines Parketts, indem sie es von ihrer Funktion als Bodenbelag befreit, ihre Fläche wie Papier (einem materialen Verwandten des Holzparketts) faltet und es zu einem dreidimensionalen Gebilde überführt, in das der Betrachter durch verschiedene Einschnitte hineinblicken kann. Das was vorher eindimensional war, wird zu einer fast um sich greifenden Skulptur, einem räumlichen Akteur.

In der New Yorker Galerie P.P.O.W. betont Oppenheimer mit „D-33“ (2012) diese nun schon einige Male eingeübten scharfen Einschnitte in Gebäudeelemente noch deutlicher. Sie tut das mit Hilfe von Material- und Farbkontrasten. Neuer aktiver Mitspieler im Team von Sarah Oppenheimer ist außerdem das Licht, dessen Effekte sie anhand von Modellen studiert. Ein Blick in ihre „R&D-Abteilung“ zeigt: Die Künstlerin setzt Licht-Gel-Filter zur Farbkorrektur ein und sie bestimmt die relativen Lichttemperaturen in jedem der sechs benachbarten Räume.

Der Schwerpunkt ihrer räumlichen Untersuchungen bei „D-33“ ist die Ecke. Sarah Oppenheimer verwendet dunkel gefärbtes Aluminium und spiegelndes Glas, mit denen sie diese Eckpunkte im Raum behandelt und all das vor dem Hintergrund von weißen Wänden – sehr graphisch, sehr photogen. Mit beiden Werkstoffen bearbeitet sie die „bestehende Architektur“ – dafür entfernte die Künstlerin die Wände der vorherigen sechs Raumeinheiten und baute erneut sechs aneinandergereihte Räume auf, um sie künstlerisch verarbeiten zu können. Und auf eine solche Weise schafft sie es, den Ausstellungsraum für sich genommen zum Ausstellungsobjekt und für die Besucher zu einem Erlebnisraum und Kunstwerk zu erheben. Fotografien von diesen Räumen sind für Betrachter kaum begreifbar. Sind es nur Flächen, mit denen die Künstlerin in die Ecken hineinschneidet oder doch skulpturale Körper? Fest steht, sie geben auf beeindruckende Weise die irritierenden Erlebnismomente wieder, die der Besucher – in seiner Rolle als menschliche Körper im Raum – im wahrsten Sinne des Wortes durchläuft. (Hierzu die Aussagen von S. O. in einem Film über ihre P.P.O.W.-Ausstellung)

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / D-33, 2012 Aluminum, glass and existing architecture. Total dimensions variable. Installation view: PPOW. New York, NY. USA, 2012. Photo credit: James Ewing
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Courtesy of Sarah Oppenheimer / D-33, 2012 Aluminum, glass and existing architecture. Total dimensions variable. Installation view: PPOW. New York, NY. USA, 2012. Photo credit: James Ewing
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Courtesy of Sarah Oppenheimer / D-33, 2012 Aluminum, glass and existing architecture. Total dimensions variable. Installation view: PPOW. New York, NY. USA, 2012. Photo credit: James Ewing

 

Es zeigt sich also, Sarah Oppenheimer erweitert ihre Ausdrucksmittel der Bewegung stetig. Vielleicht entdeckt sie sogar ihre jeweiligen nächsten „Forschungsfragen“ beim Begutachten der Fotografien? Zumindest kann es einem beim genaueren Vergleichen so vorkommen: Visuelle Funken scheinen von einer Arbeit zur nächsten überzuspringen. So wird zum Beispiel das was bei „D-33“(2012) in einer Ecke als Körper herauszuragen schien, spätestens seit ihrer Arbeit S-010100 (2017) zu einem waffelartigen Gebilde aus dunkel behandeltem Aluminium und Glas (wobei die Waffelfüllung aus einem Vakuum besteht). Zwei von ihnen sitzen in einem quadratischen Loch einer weißen Wand der Londoner Galerie Annely Juda Fine Art; das eine ist streng eingepasst in den Rahmen und das andere ist mit ihm gelenkig verbunden über ein schräges Rohr. Allzuviel Spielraum scheint es nicht zu geben in diesem engen Rahmen. Aber die Besucher fühlen sich aufgefordert, das herauszufinden und sie dürfen nicht nur das Werk anfassen, sondern müssen auch, damit das Werk wirklich wirken kann.

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / S-010100, 2017. Aluminum, glass and architecture. Total dimensions variable. Installation view: Annely Juda Fine Arts, London. 2017. Photo Credit: Serge Hasenböhler
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Courtesy of Sarah Oppenheimer / S-010100, 2017. Aluminum, glass and architecture. Total dimensions variable. Installation view: Annely Juda Fine Arts, London. 2017. Photo Credit: Serge Hasenböhler
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Courtesy of Sarah Oppenheimer / S-010100, 2017. Aluminum, glass and architecture. Total dimensions variable. Installation view: Annely Juda Fine Arts, London. 2017. Photo Credit: Serge Hasenböhler

 

Nun jedoch zu der Arbeit, die aktuell wiederbelebt wird im MASS MoCa und Anlass dieses Artikels ist: S-337473, das auf all den vorher erworbenen Erkenntnissen der Künstlerin basiert. Oppenheimer stellte es 2017 fertig, nach drei Jahren unermüdlicher Arbeit im Rahmen eines „Residency Award“. Das Projekt wurde mit Unterstützung von und für Wexner Center for the Arts in Ohio, entwickelt, wo es zum ersten Mal ausgestellt wurde. Das Wexner-Gebäude gilt als „Labor“ für die Erforschung und Weiterentwicklung der zeitgenössischen Kunst und es erscheint, gerade im Zusammenhang mit den räumlichen Auseinandersetzungen von Sarah Oppenheimer nicht ohne Bedeutung zu sein, dass es vom Architekten Peter Eisenman entworfen wurde.

Zurück zum Werkkontext: Vorher noch in einer flachen Wand und in einem Rechteck gefangen, sozusagen in seiner Inkarnation als S-010100, wird die Idee der teils starren, teils beweglichen Glas-Metall-Struktur nun gleichsam in die freie Wildbahn des Raums entlassen. Dort also, wo es das unsichtbare Gitter-System (auf dem Eisenmans Entwürfe gründen) ganz in Ruhe aufwühlen kann.

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / S-337473, 2017. Steel, glass and architecture. Installation view: Wexner Center for the Arts. USA. 2017. Total dimensions variable. Photo Credit: Serge Hasenböhler

 

Ungefähr so mag es sich für die Besucher abgespielt haben: Während man halb verspielt, halb verträumt am Werk hantiert oder nur über die gemächlich würdigen Bewegungen der kinetischen Maschinerie sinniert, dämmern in einem allmählich die Fragen.

Wie stecken diese Teile dieses Kunstobjekts im Objekt der Architektur? (Hierzu deutet die Künstlerin Antworten an, die man sich nun, ein paar Jahre später, in North Adams anschauen kann. Siehe das abschließende Bild dieses Artikels: Könnten die Gebilde auf dem Boden des Ausstellungsortes etwa die entblößte Verankerungsmechanik des restlichen Kunstwerks sein?) Und wie kommen die Neigungen der drehbaren Elemente zustande? Überhaupt kommt es anscheinend zu Winkeln, die man dem Gebilde mit dem rigide-orthogonalen Flair gar nicht zugetraut hätte. Manchmal kommen die in Bewegung gesetzten Bestandtteile den Wänden und Pfeilern sogar gefährlich nahe. Unheimlich ausgeklügelt das Ganze, mag mancheiner denken.

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / S-337473, 2017. Steel, glass and architecture. Installation view: Wexner Center for the Arts. USA. 2017. Total dimensions variable. Photo Credit: Serge Hasenböhler

 

Denn das was im ersten Augenblick so nüchtern und kühl wirkt, entpuppt sich zu einem Schauspiel von überraschenden und spannenden Momenten. Aber alles schön in der Schwebe, was merkwürdig genug ist, denn das Kunstwerk wirkt eher schwerfällig, aber das ist offensichtlich nur ein Schein. Immer wieder blitzt ein Gefühl der Leichtigkeit auf. Alles sieht in der nächsten Sekunde ganz anders aus. So wird z.B. aus einem der drehbaren Glas-Metall-Balken, in einer ganz bestimmten Position, eine Säule – die allerdings in der Luft hängt. Das Prinzip der Verwandlung trifft natürlich auch auf den umgebenden Raum zu und spätestens wenn man auf diesen Gedanken kommt, dass der Raum sich durch den Eingriff der Künstlerin und ihrer Arbeit und der Mitwirkung der Besucher immerzu zu ändern scheint, ist der nächste Gedanke nicht weit. Und dieser ist eng verbunden mit dem Besucher selbst. Denn ist er nicht selbst ein wenig so, wie dieses Kunstwerk, das durch seine Bewegungen den Raum zerschneidet, neu gliedert, frisch erlebbar macht? Macht der menschliche Körper im Prinzip nicht dasselbe? Und wer weiß, vielleicht kommt eines Tages auch eine Stimmung des Tanzes auf in diesem ansonsten fast philosophisch anmutenden Arbeiten der Amerikanerin, die in einer Vorlesung an der Harvard Graduate School of Design sagt: „Buildings are time-based.“

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / S-334473, 2019. Aluminum, steel, glass and existing architecture. Total dimensions variable. Installation view: Mass MoCA. 2019. Photo Credit: Richard Barnes
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Courtesy of Sarah Oppenheimer / S-334473, 2019. Aluminum, steel, glass and existing architecture. Total dimensions variable. Installation view: Mass MoCA. 2019. Photo Credit: Richard Barnes
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Courtesy of Sarah Oppenheimer / S-334473, 2019. Aluminum, steel, glass and existing architecture. Total dimensions variable. Installation view: Mass MoCA. 2019. Photo Credit: Richard Barnes

 

Aber erst einmal kann es sich im MASS MoCA wieder aufs Neue erproben, was auf Jahre von Vorarbeit gründet: S-337473, ein Teilstück aus einem Werk, in dem viel Analyse und Präzision steckt, viel Wissenschaft und Ästhetik, viel Technik und Choreographie. Dies ist eine Arbeit, die man als eine spannende und zugleich elegant anmutende Experimentreihe mit Architektur und Raum und Körper betrachten kann. Und wieder sind sie gefragt, die Rezipienten der Sarah Oppenheimer, ihre eigenen Wahrnehmungen und Sinne zu erforschen und sich dabei animieren zu lassen zum Sich-Wundern und Genießen, zum Entdecken von Intelligenz und geschmackvoller Rafinesse und  ja, auch von Entertainment à la Oppenheimer. ♦

 

¹ https://www.newyorker.com/magazine/1999/08/02/minimalism-depot

 

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Courtesy of Sarah Oppenheimer / S-337473, 2017. Steel, glass and architecture. Installation view: Wexner Center for the Arts. USA. 2017. Total dimensions variable. Photo Credit: Serge Hasenböhler

 

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