Petr Janda / brainwork gestaltet drei Uferzonen an der Moldau. Das Projekt veredelt ehemalige Kerkerzellen in kulturelle Nischen
4. Juli 2020 | Özlem Özdemir
I
n Charade, einer romantischen Krimikomödie mit Audrey Hepburn und Cary Grant, spielt die Stadt eine ernst zu nehmende Rolle. Die Szenen an der Seine und ihre Uferpromenade mit den endlos erscheinenden Mauern sind von Atmosphäre durchdrungen. Eine Mischung aus Spannung, Verwirrspiel und Neugier liegt in der Luft. Ein Geheimnis verlangt nach Lösung. Mal spaziert das Paar auf dem Trockenen oder sie machen eine nächtliche Bootsfahrt, unter Brücken hindurch, immerzu vorbei an dieser endlosen glatten Wand aus Stein. Dieser tektonische Begleiter ist ein magisches Zwitterwesen. Teils gehört es zur Fassaden-Kulisse, teils ordnet es sich dem Wasser zu. Fast sieht es aus wie ein einziges Gebäude, ist es aber nicht.
In Prag sieht die Sache anders aus. Die Uferdämme sind nicht allzu majestätisch hoch. Sie passen sich den menschlichen Proportionen an: so auch die Strecken Rašín, Hořejší und Dvořák, um die es im Folgenden gehen soll. Doch auch hier lauert ein mysteriöses und reizvolles Motiv. Denn das Besondere an diesen Mauern ist ihr Innenleben: ihre gruftartigen Nischen aus dem 19. Jahrhundert. Sie dienten als Verliese oder auch nur zur kühlen Aufbewahrung von Eis.
Das Jahr 2009 war der Wendepunkt. Es war Zeit diese Zwischenzone zu entdecken und nutzbar zu machen. In Zelle Nr. 9 zog das erste Café ein und auf Rašínovo nábřeží fanden die ersten Kunstausstellungen statt. Die urbane Flusslandschaft mit ihren verlockenden Flaniermöglichkeiten und Angeboten für Bootstouren gewann an Qualität und Vielseitigkeit. Trotzdem mangelte es an Sanierung, gestalterischem Zusammenhalt und einer übergeordneten Planung. Außerdem beschränkte sich der kulturelle Betrieb auf die abendlichen Sommerstunden. Von ganzjähriger Nutzung konnte nicht die Rede sein. Kurzum: Es fehlte an Visionen, an nachhaltigen und vor allem inspirierenden Konzepten. Seit 2017 übernahm Petr Janda und sein Prager Büro petrjanda/brainwork die Neugestaltung der drei Uferabschnitte von insgesamt 4 km Länge.
Petr Janda absolvierte sein Architekturstudium an der Technischen Universität in Prag. Außerdem studierte er unter dem 2015 verstorbenen Maler und Bildhauer Aleš Veselý an der Akademie der bildenden Künste. Mit der Rekonstruktion der etwa 20 Verliese von Rašín und Hořejší (den beiden Abschnitten, die sich in der Nähe der Brücke Palackého gegenüberliegen) ist die erste Planungsphase abgeschlossen. Im Oktober 2019 fand ihre Einweihung statt. (Der Uferdamm von Dvořák, in der Gegend der Brücke Čechův, wird derzeit realisiert. Inhalt der letzten Bauphase ist u. a. ein Boot-Terminal und ein schwimmendes Pool.)
Das Ergebnis des weitläufigen und dezentralen Areals lässt sich nur in Stichproben und im Überblick untersuchen. Zwei Arten von Gewölbekellern kommen vor. Und genau diese sind es, die dank ihrer künstlerischen Neuinterpretation dem Gesamtentwurf seinen unverwechselbaren Stempel verleihen.
Da sind zunächst die Eingänge aus Steinbögen, die Petr Janda zu einem Kreis ausformuliert hat. Hierzu füllt er die Bögen – im Außenbereich und dort wo sie senkrecht in den Boden übergehen – mit Stufungen aus. Diese haben fast dieselbe Tiefe wie die Laibung und lassen sich als Sitzalkoven verwenden oder als Klettergerüst für Kinder. (Das „Treppenelement“ ist jedoch nicht nur dekorativ, sondern birgt auch ein technisches Innenleben aus Installationsschacht, Belüftungsöffnung der Klimaanlage und Hochwasserschutzelemente – allesamt Ausläufer des technischen Ausbaus der Innenräume).
Der Raumabschluss der Zellen ist entweder aus Glas oder Stahl. Erstere sind runde Fenster, die sich entlang einer diagonalen Achse drehen und somit auch als Eingang dienen. (Laut Petr Janda arbeitete der erste Entwurf mit vertikaler und horizontaler Neigung. Die endgültige Version führte aber schließlich zu einer Zwischenlösung, d. h. zu einer schrägen Drehachse. Dadurch ist das Fenster einfacher zu öffnen und gewährt mehr Sicherheit.¹) Die Rahmen sind schwarz und tangieren den Boden. Der Übergang von außen nach innen gestaltet sich schwellenlos und ist selbst für Rollstuhlfahrer mühelos zu überwinden.
Die leicht elliptischen Schwenkfenster aus organischem Glas haben eine Stärke von 7 cm, einen Durchmesser von 5,5 m und wiegen etwa 2,5 t. Zum Öffnen braucht man einen Schlüssel, aber den weiteren Mechanismus übernimmt ein Motor. Was kaum merklich ist: Jedes dieser Fenster ist maßgeschneidert, hat eine einzigartige Form. Eine weitere Besonderheit ist die Qualität des Glasmaterials: Es entspricht dem Typ, der bei Meerwasseraquarien zum Einsatz kommt (eine weise Entscheidung angesichts der hochwassergeplagten Region). Die Herstellung fand in Thailand statt und der Transport erfolgte per Boot über Hamburg nach Prag. Kein Zweifel: Diese runde durchsichtige Tür, dieses gucklochartige Objekt, das bei Nacht aufleuchtet und die Uferfront punktiert, ist der Star des Projekts. (Um nochmals die Filmkunst zu bemühen: Wer Jacques Tatis Werk „Mein Onkel“ kennt, fühlt sich ein wenig an die zwei berühmten Kulleraugen-Fenster der Villa Arpel erinnert.)
Das spektakuläre Thema der schwenkbaren „Riesenlinsen“ zieht sich aber nicht von Anfang bis Ende durch. In den niedrigen Bereichen der Uferwälle werden die Gewölbe notgedrungen flacher und mit ihnen die Bögen über den Zugängen. (Besonders gilt dies für den Bereich Hořejší.) Manche Eingänge weisen gänzlich rechteckige Formen auf und werden auch so belassen. An derartigen Stellen kommt das zweite markante Material dieses Projekts zum Einsatz: Stahl. Aber auch diese rechteckigen Portale lehnen sich an das Motiv der schwungvollen Rundung. Die dunklen Stahlbleche, die hier den Raumabschluss bilden, erinnern an gebogene Seiten eines Buchs und wie ein solches lassen sie sich auf- und zuklappen.
Petr Janda gelingt es, die verschiedenen Öffnungsformen der Uferwand differenziert zu behandeln. Gleichzeitig werden sie alle durch ein gemeinsames formales Prinzip zusammengehalten. Alle gründen auf der Geometrie der Kurve und auf dem Prinzip der Beweglichkeit.
Auch im Innern profiliert sich der Entwurf durch Abwechslung, die jedoch in eine einheitliche Formensprache gepackt ist. Das Raumprogramm reicht von Cafés, Bars über Galerien, DIY-Werkstätten bis hin zu öffentlichen Toiletten. Sogar eine Leihbücherei ist eingeplant – eine Idee, die entfernt an die Bouquinisten der Seine erinnern könnte. Die sandgestrahlten Betonoberflächen bilden zusammen mit den weichen Gewölben oder gekrümmten Stahlwänden einen archaischen Rahmen. Umso mehr kommen die frappanten Interieurelemente zur Geltung. Wie künstlerische Werke statten sie die Räume aus: so etwa die schwarzen, titanbeschichteten Edelstahlbleche der Trennwände, die zu visuellen Verzerrungen und zum Eindruck des Verschwimmens führen. Auch gibt es spiegelgleiche Wände, die mit einer monolithischen Innentreppe gleichsam ein Vexierspiel treiben. Und wenn man Glück hat, kann man die Regungen der Flussoberfläche auf den Innenwänden reflektiert sehen und beobachten wie diese Reflexion sich an einer glänzenden Theke widerspiegelt. In solchen Momenten ist die Verschmelzung von einem Objekt mit dem anderen, von Innen und Außen, perfekt. Den Wahrnehmungen der Besucherschaft bietet sich ein subtiles Panoptikum von physikalischen Effekten.
Man kann die Betrachtung dieses Projekts nicht beenden, ohne hervorzuheben: Natürlich ist es nichts Neues. Städte und Architekturzünfte hatten schon immer eine Schwäche für die Zweckentfremdung von ungenutzten Bauten. Es geschah aus der Not oder aus pragmatischen Gründen. Selbst die vorliegenden Ufermauern fungierten, wie bereits erwähnt, zeitweise als Eislager. Oder es ging darum, etwas aus dem Alten herauszuschälen, um das Ungewohnte zu zelebrieren. Manche dieser Versuche münden in ausgereizten Varianten, manche verblüffen noch immer: Allein in der Gegenwart reicht die Skala von hippen Nachtklubs in Ex-Bunkern bis hin zur fast brutalen Implantierung eines Museums in ein ehemaliges Getreidesilo – siehe Zeitz MOCAA in Kapstadt.
Die Revitalisierung der Uferarchitektur in der tschechischen Hauptstadt ist akzentuierend statt Aufsehen erheischend. Sanft und doch mit einem vorherrschenden Stil verbindet sie die Mauer mit seiner natürlichen Lage. Sowohl die skulpturalen Mittel als auch die optischen Manöver lassen den Fluss ins Bewusstsein der Menschen rücken. Die Befürchtung einer Kommerzialisierung mag ihre Berechtigung haben. Aber das Risiko lohnt sich vielleicht, wenn die Gestaltung der Uferzonen zu einer ästhetische Wertschätzung führt. Denn dieser Entwurf hat die ehrenhafte Aufgabe, an die Bedeutung der Moldau zu erinnern, ohne die Prag nicht das wäre, was sie ist.
Was dieses Pilotprojekt einläutet, ist nichts Geringeres als ein öffentlicher und kultivierter Raum. Mehr noch: Es definiert das, was zuvor nur wenig Klarheit besaß als einen Ort mit Charakter und Esprit. Kein Wunder also, dass in Charade – dem Agentenfilm, in dem Cary Grant Audrey Hepburn mit seinem vierfachen Namenswechsel verwirrt – eine Ufermauer mit von der Partie ist. Ist sie doch Sinnbild für das „Dazwischensein“, für das „Weder-Noch“ oder „Sowohl-Als-Auch“. In Prag hat nun genau diese zwiespältige Zone eine neue Identität erlangt, von wo aus die Menschen einen erfrischenden Blick auf ihre Stadt gewinnen. Sie brauchen nur durch das Brillenglas à la Janda zu schauen. ♦
¹ https://www.lidovky.cz/lide/prevazuje-pristup-veci-pouze-oprasovat-a-neutratit-moc-penez-mini-tvurce-prazskych-naplavek-janda.A190818_141044_lide_krev/; letzter Zugriff 4.7.2020
Zur Website von PETRJANDA / BRAINWORK
From dungeon to delight: Revitalization of the Prague waterfront architecture by Petr Janda
Petr Janda / brainwork creates three embankment zones along the Moldau. The project transforms former dungeon cells into cultural niches.
In Charade, a romantic crime comedy starring Audrey Hepburn and Cary Grant, the city plays a role to be taken seriously. The scenes along the Seine, and its promenade with its seemingly endless walls, are almost imbued with atmosphere. A mixture of tension, confusion and curiosity is in the air. There is a secret that demands its solution. Sometimes the couple walks on dry land. Or they go on a night boat trip (under bridges, always passing this endless smooth wall of stone). This tectonic companion is a magical hybrid being. Partly it belongs to the façade scenery, partly it assigns itself to the water. It almost looks like a single building, but it is not.
Things are different in Prague. The embankments are not all that majestic in height. They adapt to human proportions: so do the sections Rašín, Hořejší and Dvořák which we will examine below. But here, too, there is a mysterious and appealing theme lurking. For what is unique about these walls is their inner life: their vault-like niches from the 19th century. They served as dungeons or even just for the cool storage of ice.
The year 2009 was the turning point. It was time to explore and make use of this intermediate area. The first café moved into cell no. 9 and the first art exhibitions took place at Rašínovo nábřeží. The urban river landscape with its enticing strolls and offers for boat trips gained in quality and versatility. Nevertheless, there was a lack of renovation, cohesion in design and overall planning. Also, the cultural activities remained limited to the summer evenings. There was no question of year-round use. In short: There was a lack of visions, of sustainable and – above all – inspiring concepts. Since 2017, Petr Janda and his Prague office petrjanda/brainwork have been responsible for the redesign of the three sections of the riverbank, which have a total length of 4 km.
Janda graduated from the Technical University in Prague with a degree in architecture. (He also studied at the Academy of Fine Arts under the painter and sculptor Aleš Veselý, who died in 2015). The reconstruction of the approximately 20 dungeons of Rašín and Hořejší (the two sections facing each other near the Palackého Bridge) marks the end of the first planning phase. Their inauguration took place in October 2019. (The embankment of Dvořák, in the area of the bridge Čechův, is currently under construction. The contents of the last construction phase include a boat terminal and a floating pool).
The result of the extensive and decentralized area only allows for random sampling and overview. Two types of vaulted cellars occur. And it is precisely these that, thanks to their artistic reinterpretation, give the overall design its unmistakable stamp.
First of all, there are entrances consisting of stone arches, which the architect has formulated into a circle. For this purpose, he fills the arches – in the outer area and where they merge vertically into the ground – with steps. These are almost as deep as the reveal and are suitable for use as seating alcoves or as climbing frames for children. (Yet, the „stair element“ is not only decorative but also contains a technical interior comprising an installation shaft, air conditioning ventilation opening and flood protection elements – all of which are offshoots of the technical finishing of the interior).
The spatial enclosure of the cells is either out of glass or steel. The former are round windows that rotate along a diagonal axis and thus also act as an entrance. (According to Janda, the first design worked with vertical and horizontal inclination. The final version, however, eventually led to an intermediate solution, i.e. a diagonal axis of rotation. This makes the window easier to open and provides more security.1) The frames are black and touch the ground. The transition from the outside to the inside is free of thresholds so that even wheelchair users can comfortably negotiate it.
The slightly elliptical pivoting windows made of organic glass have a thickness of 7 cm, a diameter of 5.5 m and weigh about 2.5 tons. To open them, you need a key, but the rest of the mechanism is done by a motor. What is hardly noticeable: each of these windows is tailor-made, every one has a unique shape. Another special feature is the quality of their glass material: it corresponds to the type used in marine aquariums (a wise decision considering the flooded region). It was manufactured in Thailand and transported by boat via Hamburg to Prague. No doubt about it: this round transparent door, this peephole-like object that lights up at night and punctures the bank front, is the star of the project. (To once again appeal to the art of film: Anyone familiar with Jacques Tati’s work „My Uncle“ feels a little reminded of the two famous saucer-eyed windows of Villa Arpel.)
However, the spectacular pattern of the pivoting „giant lenses“ does not run from beginning to end. In the low areas of the bank walls, the vaults inevitably become flatter and with them the arches above the accesses. (This applies in particular to the area Hořejší.) Some entrances have completely rectangular shapes and are left as they are. In these places, the second striking material of this project comes into play: steel. But these rectangular portals also lean on the motif of the sweeping curves. The dark steel sheets that form the space here are reminiscent of the bent pages of a book, and like a book, they can be opened and closed.
Janda succeeds in treating the different opening forms of the bank wall in a nuanced way. At the same time, they are all held together by a common formal principle. All of them rest on the geometry of the curve and on the principle of movement.
Inside, too, the design distinguishes itself through variety, which, however, is packed into a homogeneous design language. The space programme ranges from cafés, bars, galleries and DIY workshops to public toilets. There is even a lending library – an idea that might remotely resemble the bouquinistes of the Seine. The sandblasted concrete surfaces together with the soft vaults or curvy steel walls form an archaic frame. All the more, the striking interior elements come into their own. They furnish the rooms like works of art: for example the black, titanium-coated stainless steel sheets of the partition walls, which lead to visual distortions and the impression of blurring. There are also mirror-like walls that play a game of deception with a monolithic interior staircase. And if you are lucky, you can see the movements of the river surface being reflected on the inner walls and observe how this reflection mirrors itself on a shiny counter. In such moments the fusion of one object with another, inside and outside, is perfect. The visitors‘ perceptions benefit from a subtle panopticon of physical effects.
It is impossible to end the examination of this project without highlighting this: Of course, it’s nothing new. Cities and architectural guilds have always had a weakness for the misappropriation of unused buildings. It happened out of necessity or for pragmatic reasons. Even the existing bank walls, as already mentioned, functioned as ice storages at times. Or it was a matter of peeling something out of the old to celebrate the unusual. Some of these attempts result in worn out variants, some still amaze. In the contemporary world alone the scale ranges from hip nightclubs in ex-bunkers to the almost brutal implantation of a museum in a former grain silo – see Zeitz MOCAA in Cape Town.
The revitalization of the bank architecture in the Czech capital is accentuating rather than provoking attention. Gently yet with a predominant style, it connects the wall with its natural location. Both the sculptural means and the visual manoeuvres make people aware of the river. The fear of commercialization may have its justification. But the risk may be worth taking if the design of the riverbank zones leads to aesthetic appreciation. For this project has the honourable task of reminding people of the importance of the Vltava, without which Prague would not be what it is.
What this pilot project heralds is nothing less than public and cultivated space. What is more, it defines what previously had little clarity as a place with character and esprit. So it’s no wonder that in Charade – the spy film in which Cary Grant confuses Audrey Hepburn with his four name changes – there is a quay wall involved. After all, it is a symbol of being in-between, of being neither or both. In Prague, it is precisely this ambiguous zone that has now acquired a new identity, from where people can gain a refreshing view of their city. All they have to do is look through glasses à la Janda.
TRANSLATION BY ÖZLEM ÖZDEMIR
1 https://www.lidovky.cz/lide/prevazuje-pristup-veci-pouze-oprasovat-a-neutratit-moc-penez-mini-tvurce-prazskych-naplavek-janda.A190818_141044_lide_krev/; last access date 4.7.2020