Bilgin Architects
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BILGIN ARCHITECTS ODER:
EINE ZAUBERHAFTE ZENTRALE FÜR KALYON KARAPINAR-2

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Mit ihrer immer anders aussehenden Metallhülle ist die Kontrollzentrale für die Solarfarm Kalyon Karapınar bereits eine landesweite Attraktion. Bilgin Architects‘ Entwurf macht das Gebäude zu einem Ort zwischen Himmel und Erde. Begüm Yılmaz Bilgin und Caner Bilgin berichten Näheres zu den Auswirkungen ihres Highlights und geben Einblicke in die Arbeit ihres Istanbuler Büros.

29. März 2024 | Özlem Özdemir

 

DER AUSSENTREPPEN-TRICK VON BILGIN ARCHITECTS

Sie haben nicht nur das Kontrollgebäude für Kalyon Karapınar entworfen. Sie waren auch an der Landschaftsplanung beteiligt. Dazu gehört die breite, rötliche Treppe, die so wirkt, als würde wie aus dem Boden hervorgehen. Wie seichte Wellen bewegen sich die Stufen auf den Eingang zu. Und darin eingebettet ist eine schnurgerade Rampe, die interessanterweise nicht direkt auf den Eingang zuläuft, sondern leicht versetzt. Haben Sie diesen kaum wahrnehmbaren Anstieg künstlich erzeugt, um möglichst elegant die Höhe des Eingangs zu erreichen und gleichzeitig der erhabenen Formensprache des Gebäudes zu entsprechen?

Zunächst einmal befinden sich alle Solarmodule, die Sie im Kraftwerk sehen, etwa 1,5 Meter über dem Boden. Dadurch entsteht praktisch ein neues Bodenniveau. Deshalb haben wir das Bauwerk über diese Paneele hinweg um 50 cm auf eine Höhe von 2 m angehoben.

Wenn man das Kraftwerk betreten hat, kann man dieses abstrakte „Prisma“, dessen Eingang nicht zu erkennen ist, nur über diese lange und breite Treppe erreichen – das haben wir durch unseren Entwurf so festgelegt. Dabei nähert man sich dem Bauwerk nach und nach und erklimmt es beinahe wie bei einer Düne. Diese Art der Annäherung an das Bauwerk ermöglicht es Ihnen, die Veränderung der Fassade zu erleben. Beim Näherkommen fällt auf: Die Farbe der Fassade ändert sich!

Bilgin Architects Kalyon Karapinar aus der Vogelperspektive
Bilgin Architects / Kalyon Karapınar / Kontrollzentrale // Mit freundlicher Genehmigung von Bilgin Architects // Foto © Egemen Karakaya
Bilgin Architects' Kontrollzentrale für das Solarkraftwerk in Karapinar, Türkei
Bilgin Architects / Kalyon Karapınar / Kontrollzentrale // Mit freundlicher Genehmigung von Bilgin Architects // Foto © Egemen Karakaya
Kalyon Karapinar Kontrollzentrale mit Edelstahlfassade und auskragender Bodenplatte
Bilgin Architects / Kalyon Karapınar / Kontrollzentrale // Mit freundlicher Genehmigung von Bilgin Architects // Foto © Egemen Karakaya

 

Was den eingeschossigen Kubus also noch am Boden hält, ist die terrassenförmige Treppenanlage. Ansonsten haben die übrigen Unterkanten keinen Bodenkontakt, was durch eine Auskragung der Bodenplatte erreicht wird. Das verleiht dem Gebäude einen abgehobenen, schwebenden und leichten Charakter, der durch die spiegelnde Hülle noch unterstrichen wird. Ist diese Mischung aus Bodenhaftung und Abgehobenheit ein gewollter Kontrast?

Das hat tatsächlich ein wenig mit der „Fremdheit“ des Objekts an diesem Ort zu tun. Aber diese Andersartigkeit war unvermeidlich, egal, was wir gemacht hätten. Unser Ziel war es, eine Architektur zu schaffen, die den Boden nicht berührt, aber die Erde widerspiegelt und den Himmel.

Kontrollzentrale eines Solarkraftwerks von Bilgin Architects mit durchlässiger Edelstahlfassade
Bilgin Architects / Kalyon Karapınar / Kontrollzentrale // Mit freundlicher Genehmigung von Bilgin Architects // Foto © Egemen Karakaya
Zentrarlgebäude von Kalyon Karapinar bei Nacht mit leuchtender Fassade
Bilgin Architects / Kalyon Karapınar / Kontrollzentrale // Mit freundlicher Genehmigung von Bilgin Architects // Foto © Egemen Karakaya
Kontrollzentrale für das Solarkraftwerk in Karapinar bei dunstigem Wetter
Bilgin Architects / Kalyon Karapınar / Kontrollzentrale // Mit freundlicher Genehmigung von Bilgin Architects // Foto © Egemen Karakaya

 

EINE ENERGIEWIRKSAME UND IDENTITÄTSSTIFTENDE INVESTITION  

Ein anderer faszinierender Aspekt dieses Gebäudes ist, dass es sowohl eine technische als auch eine märchenhafte Ausstrahlung hat. Mal glänzt und schimmert es silbrig bis pastellfarben, mal glüht es wie ein Stück Kohle, wenn die Innenräume nachts aufleuchten, und bei Nebel scheint es sich aufzulösen. Auf den Fotografien wirkt es wie ein lebendiges Naturphänomen und man möchte es live erleben. Die Katze des Hauses, die man hier und da auf den Innenaufnahmen durch die Räume streifen sieht, kann man nur beneiden. Ich befürchte, dass eher beruflich involvierte Menschen dieses Gebäude besuchen werden. Gibt es Pläne, diesen Ort auch für die Bevölkerung der Umgebung zugänglich zu machen? Gab es schon „Spontanbesuche“ von neugierigen Anwohnern?

Ja, und wir sind sehr glücklich über diesen halböffentlichen Zustand des Gebäudes. Die Anfragen nach Besichtigungen kommen nicht nur direkt aus der Region, sondern aus dem ganzen Land – das war bei der Planung des Gebäudes nicht vorgesehen. Angesichts der großen Nachfrage wurde beschlossen, keine Besichtigungsanfrage abzulehnen, und wir beobachten, dass das voller Stolz umgesetzt wird. Erfreulich ist auch, dass der Bezirk Karapınar, von dem man bisher wenig gehört hat, zu einem Besuchsziel wird.

Innenaufnahme von Kalyon Karapinar mit Katze von Bilgin Architects
Bilgin Architects / Kalyon Karapınar / Kontrollzentrale // Mit freundlicher Genehmigung von Bilgin Architects // Foto © Egemen Karakaya

 

Was die Bevölkerung angeht: Sie hat in den letzten Jahren massiv unter der wirtschaftlichen Situation des Landes gelitten und sollte am meisten von den erneuerbaren Energien profitieren. Was können Sie dazu sagen? Geht es den Menschen in der Region dank Kalyon Karapınar finanziell besser? Und sehen Sie in der Türkei ein wachsendes Interesse an energie- und umweltbewusstem Bauen, zumindest bei der Bevölkerungsschicht, die es sich leisten kann?

Leider glauben wir, dass die Auswirkungen solcher Investitionen auf die Entwicklung der Region sehr gering sind, da für ein Gebiet dieser Größe nur sehr wenige Arbeitsplätze benötigt werden. Aber für ein Land, das von ausländischer Energieproduktion abhängig ist, ist es eine relevante und wertvolle Investition. Die gesamte erzeugte Energie wird an die staatliche Infrastruktur angeschlossen. Somit ist dieses Kraftwerk Teil des gesamten Energiesystems und nicht nur der regionalen Nutzung. Kurzfristig sind die Auswirkungen vielleicht nicht sehr deutlich, aber wir glauben, dass diese und ähnliche Investitionen in Zukunft einen spürbaren wirtschaftlichen Beitrag leisten werden. Dies wird natürlich nicht durch Einzelinvestitionen geschehen, sondern durch staatliche Politik und Regulierung.

 

BILGIN ARCHITECTS: WAS DIE TÜRKISCHE ARCHITEKTUR AUSMACHT, IST ETWAS NEBULÖS

Ich habe mit dem Architektenduo Çinici begonnen und möchte mit ihnen langsam zum Ende kommen. Behruz Çinicis Partnerin Altuğ Çinici ist vor kurzem verstorben. Das Paar hatte sein Büro 1963 gegründet. In einem Interview im Jahr 2018, sieben Jahre nach seinem Tod, sagte Altuğ Çinici, ihr Mann sei ein Architekt mit viel Fantasie gewesen, sie eher die Realistin. Und so hätten sie ein Gleichgewicht gefunden. Was halten Sie von solchen Aufteilungen? Wie würden Sie Ihre eigene Zusammenarbeit definieren? Was kennzeichnet Ihren architektonischen Ansatz und welche Inspirationen und Vorbilder haben Sie?

Begüm Yılmaz Bilgin: Wir hatten beide die Gelegenheit, im Laufe unserer Karriere mit großen Namen zusammenzuarbeiten. Nach einem kurzen akademischen Abstecher habe ich fünf Jahre lang mit Can Çinici bei Çinici Architecture zusammengearbeitet. Eine ähnliche Erfahrung machte Caner mit Mehmet Kütükçüoğlu und Ertuğ Uçar bei Teğet Architecture. Außerdem arbeitete er acht Jahre lang als Teilzeit-Studioleiter an der Bilgi Universität. Heute befinden wir uns in einer Phase, in der wir uns mehr auf unsere beruflichen Erfahrungen konzentrieren.

Caner Bilgin: Ich kann sagen, dass unsere architektonischen Ansätze und Tendenzen sehr ähnlich sind. Der größte Unterschied besteht jedoch darin, dass wir, jeder für sich, in denjenigen Bereichen arbeitet, die er oder sie besser beherrscht. In diesem Sinne kann ich sagen, dass wir bei uns eine Arbeitsteilung haben, die sich gegenseitig ergänzt. Das gilt allerdings nicht nur für uns. Jeder, der mit uns zusammenarbeitet, füllt einen Teil der intellektuellen und praktischen Produktion aus.

Ich hatte Sie eingangs nach Ihren beruflichen Vorerfahrungen gefragt, auch weil ich vor fast 25 Jahren ein Praktikum bei Cengiz Bektaş gemacht habe. Zurück in Deutschland wollte ich sofort einen Artikel für eine renommierte Fachzeitschrift schreiben. Aber die Redakteurin zögerte, weil Bektaş in Deutschland praktisch unbekannt war. An dieser Unkenntnis hat sich seitdem nicht viel geändert. Wie sehen Sie den aktuellen Stand der türkischen Architektur im internationalen Kontext?

Sieht man von den Konzernbüros ab, gibt es zweifellos sehr qualifizierte türkische Projekte und Architekten auf internationalem Niveau. Es ist jedoch nicht einfach, in die internationale Architekturliteratur einzudringen, die von der „westlichen“ Welt dominiert wird. Wenn man beispielsweise die Arbeiten in Brasilien analysiert, stößt man neben all den bekannten Namen auch auf andere hervorragende Beispiele. Ähnlich verhält es sich in der Türkei. Es gibt viele Architekten, die versuchen, außerhalb der Architekturszene zu bleiben, deren Namen nicht so bekannt sind, und die gibt es eigentlich überall auf der Welt. Letztendlich ist Architektur ein sehr universeller Beruf. Aber was die türkische Architektur ausmacht, ist etwas nebulös. Wenn wir bestimmte architektonische Stile und Techniken beiseitelassen und uns mehr auf die Verbindung der Architektur mit dem Ort und der Geografie konzentrieren würden, wäre alles „echter“. Dann würden wir auch besser verstehen, was Cengiz Bektaş mit dem Türkischen Haus meint.

 

MIT SORGFALT UND ABENTEUERLUST IN DIE ZUKUNFT

Ihr Büro ist erst zehn Jahre jung. Dieser realisierte Wettbewerbsentwurf ist einer ihrer größten Erfolge. In derselben Region haben Sie bereits weitere Projekte. Hat Kalyon Karapınar Ihr professionelles Bewusstsein für umweltfreundliche Energien geschärft? Gibt es eine Bauaufgabe, Materialien, Technologien oder eine Region, die Sie besonders reizen würde?

Wir haben bis heute an elf nationalen Wettbewerben teilgenommen. Insgesamt haben wir drei erste Plätze und sieben Preise gewonnen. Leider wird das Projekt Çanakkale Retail & Communiy Center, mit dem wir bei diesen Wettbewerben den 1. Platz belegten, wahrscheinlich nicht realisiert werden. Die Bauarbeiten am Torbalı City Square und dem Rathaus, die ebenfalls den ersten Platz belegten, gehen weiter. Es gibt ein Lehrerhaus in Karapınar, ein Wohnhaus in Söğütlüköy/Ayvacık, ein Bildungszentrum für Erdbebenkatastrophen und ein Museumsprojekt in Istanbul/Avcılar. Außerdem arbeiten wir an der Osmaneli-Bursa-Linie mit vier Zwischenbahnhöfen und dem Bahnhof Bursa, deren Rohbauten bereits begonnen haben und an deren Planung wir seit 1,5 Jahren arbeiten. Schließlich haben wir noch ein Bauprojekt, das wir gerade abgeliefert haben, bei dem es um den Wiederaufbau des Stadtzentrums von Hatay nach dem Erdbeben ging.

Um ehrlich zu sein, versuchen wir, die Projekte sorgfältig auszuwählen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, nicht immer im gleichen Bereich zu bleiben, sondern vielseitig arbeiten zu können. Diese Vielfalt ist für uns sehr wertvoll, aber auch schwierig, wenn es darum geht, ein qualifiziertes Gebäude zu errichten. Deshalb bringt jedes Projekt und jedes Thema neue Kenntnisse und Erfahrungen ins Büro. Das Scada-Projekt für Kalyon Karapınar war eine großartige Erfahrung … ein nachhaltiges, energieeffizientes Gebäude in einer Region zu bauen, in der die nächste Großstadt 120 Kilometer entfernt ist! Es war auch ein sehr experimenteller Prozess für uns.

Letztendlich ist jedes Projekt ein neues Abenteuer, und jedes neue Projekt ist eine neue Seite, die wir aufschlagen. In diesem Sinne können wir sagen, dass wir in puncto Vielfalt und Projektmanagement fast da sind, wo wir sein wollen.

Begüm Yılmaz Bilgin und Caner Bilgin, ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg und bedanke mich für dieses Interview. ♦

 

Aus dem Türkischen von Özlem Özdemir

1.Teil des Interviews

 

Portrait der Architekten Begüm Yılmaz Bilgin (l.) und Caner Bilgin in ihrem Büro
Bilgin Architects / Begüm Yılmaz Bilgin (l.) und Caner Bilgin // Mit freundlicher Genehmigung von Bilgin Architects